Vielleicht haben Sie diese Bilder oder Videos auch schon einmal gesehen: In schwarz-weiß gehaltene Erinnerungen an jene Ancien-Régime-Phasen rund um 1913 oder 1932. Wer damals über eine Foto- oder gar eine Filmkamera verfügte, gehörte zum gut situierten Mittelstand. Und konnte sich folglich Ausflüge an Seen und in Cafés leisten. Heraus kam dabei jener Typus Bilder, den ich meine: Glückliche, gelöst wirkende Menschen, wenig ahnend oder gut verdrängend, dass sie am Vorabend eines biographischen Bruchs stehen, der ihre Leben mit einem Schlag verändern würde. Und vielleicht sogar beendete.
Schnitt. Andere Bildsequenz. Als die Ostdeutschen in Oktober und November 1989 genug hatten von ihrem Ancien-Régime, sorgten sie aus eigener Regie für einen biographischen Bruch. Die friedliche Revolution beendete die Diktatur, die am Ende ihrer ökonomischen Möglichkeiten war. Und dementsprechend Gefolgsamkeit nur noch über immer stärker werdende Repression erzwingen konnte. Auch sie, die Ostdeutschen, verloren ihren Staat. Und veränderten gravierend ihr Leben.
Diese Erfahrung, an zwei Beispielen dargestellt, bezeichne ich als biographischen Bruch: Der radikale, unwiederbring-liche Verlust von gewohntem Leben und Erleben. Es ist die Erfahrung, die nun den von Wohlstand und Urlaub von der Weltgeschichte verwöhnten Westdeutschen ins Haus steht. Auch sie werden ihren Staat verlieren. Auch sie werden ihr Leben gravierend verändert finden. Die demographischen Umwälzungen aus dynamischem Sterbeüberschuss der autochthonen Bevölkerung sowie dem noch dynamischeren Wachstum an völlig kulturfremder Zuwanderung (zuzüglich der erheblich höheren Fertilität der Zuwandererkulturen) sind das eine. Beides trifft zusammen mit einer sich dynamisierenden Zerfallsentwicklung von europäischer Institution und Währung. Kurz gesagt: Der Westen in seiner demographischen, ökonomischen und kulturellen Form zerfällt. Und das zunehmend beschleunigt. Es ist wie mit dem Kippen über ein Balkongeländer: Zuerst langsam, dann, wenn der Kippwinkel erreicht ist, sehr schnell und nicht mehr aufhaltbar.
Beachtlich, aber durchaus typisch für eine solche Entwicklung, ist das Ignorieren der im Grunde immer deutlicher zutage tretenden Wirklichkeit. Ein Phänomen, das wir auch individual-psychologisch kennen: Verdrängung ist einer der stärksten psychischen Kräfte, über die wir Menschen verfügen. Die Wirklichkeit wird gebogen und der Scheinwirklichkeit angepasst – sei es auch mit noch so grotesken Rationalisierungen und Erklärungsmustern. Auch als Kollektiv werden solche Verdrängungsmechanismen deutlich. In den westdeutschen Milieus identifiziere ich drei wesentliche Verdrängungstypen.
Der erste ist der bräsig-blasierte, sozio-ökonomisch gut aufgestellte Typus. Er liegt deutlich über dem Altersmedian (ist also gut über 50), und in mittlerer bis höherer Mittelschicht platziert. Den eigenen Gartenzwerg polierend, am Rande der Stadt oder auf dem Land wohnend, pflegt er seine Form des Eskapismus: Was immer da draußen auch passiert, mich wird es schon nicht treffen. Im Speckgürtel des alt-bundesrepublikanischen Wohlstands rümpft man, durchaus hoch gebildet, das Näschen über die angeblichen Einfaltspinsel von „Rechts“, wohl wissend, dass dies bei den gleich tickenden Nachbarn gut ankommt. Denken Sie dabei zum Beispiel an den selbsternannten Weltarzt Montgomery.
Der zweite ist der juvenil-präpotente, unter dem Altersmedian und entsprechend sozioökonomisch instabil liegende Typus. Schon Teil der drei Jahrzehnte währenden Bildungskatastrophe mangelt es bereits an klassischer Bildung. Das hieraus resultierende Vakuum wird mit Moral und Haltung gefüllt, die durchaus wacklige sozio-ökonomische Existenz wird durch die noch vorhandenen Rücklagen der Elterngeneration ausgeglichen. Teilprivilegiert leben sie in den urbanen Großstädten, gefangen in den goldenen Käfigen der höheren Moral und der wie eine Monstranz vor sich her getragenen Haltung. Nachdem die Kinder in die rein autochthone Waldorf-Schule gebracht wurden, twittert man miteinander präpotentes Zeugs über die „Dummen“ und „Leerdenker“ und bewegt sich dabei ausschließlich in den juvenilen Peer-Groups – ohne auch nur einem einzigen Erwachsenen im Raum. Versuchen Sie jetzt ganz angestrengt nicht an Annalena Baerbock zu denken!
Der dritte ist der infantil-naive bis infantil-psychotische Typus. Völlig untergegangen in der absolut gewordenen Bildungskatastrophe: Bauklötzchenstapler mit Einser-Abitur. In Kontexten zu denken, differenzierte Betrachtungen anzustellen oder gar komplexere Probleme zu erfassen (von Lösen gar nicht zu reden!) ist in dieser U30-Kohorte schon rein kognitiv unmöglich. Es sind Menschen, die aus ihren Kinderzimmern nie herausgewachsen sind, naiven Narrativen von Grenzenlosigkeit und One-World-Geschwurbel hinterherrennend: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Und wer glauben muss, darf in diesem Glauben nicht erschüttert werden! Und somit wird es schnell psychotisch, wenn mal wieder mit angeblichen Mikroaggressionen oder altweißmännlichen Triggern die Klima-, Gender- oder One-World-Halluzinationen gestört wurden. Denken Sie hier an die geradezu grotesk-psychiatrisch wirkenden „Hungerstreikenden“ von Berlin, die sich nicht entblödeten, im Treffen mit dem zum Kanzler gewordenen Olaf Scholz sprichwörtlich zu schreien und den Füßen auf dem Boden zu stampfen.
Allen gemein ist: Sie stehen am Vorabend ihres biographischen Bruchs. Sie wirken in ihrem jeweiligen Heile-Welt-Theater wie die eingangs beschriebenen Monochrom-Deutschen auf den alten Bildern und Filmchen: Naiv, präpotent, blasiert und bräsig. Nicht in der Lage, wie einst etwa die Ostdeutschen, die verrückten Möbel wieder gerade zu setzen: Sie, die Ostdeutschen wagten den Verlust, und gewannen dadurch Freiheit und Erwachsenheit. Diesen Mut, diese Hypothese vertrete ich schon lange, werden die konfliktscheuen Wessis den Ossis nie verzeihen.
Doch zurück zu den Westdeutschen. Jenen, die bislang nur Wohlstand und Urlaub von der Weltgeschichte kannten. Und meinen, mit ihrem Heile-Welt-Theater unterschiedlicher Typifizierung auch weiterhin die Realwirklichkeit außer Kraft setzen zu können. Sie werden ihren Staat, ihr Ancien-Régime, verlieren. Demographisch. Ökonomisch. Kulturell. Zu meinen ostdeutschen Freunden sage ich schon länger, dass sie sich vom Vorwurf des „Jammer-Ossis“ nicht treffen lassen sollen: Der Jammer-Wessi, der sich einbildete, die Welt und den Menschen neu erfunden zu haben, wird, wenn er einmal erkannt hat, dass es vorbei ist, alle Klischees vom „Jammer-Ossi“ weit übertreffen. Kulminierend in dem Satz „Davon haben wir nichts gewusst!“.
Das wird ihn auch nicht mehr ändern. Den biographischen Bruch. Die Ostdeutschen kennen das schon.
Zum Autor: Alexander Freitag ist Wirtschaftspsychologe und Lehrbeauftragter für Präklinische Notfallmedizin & Psychiatrie. Er ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“.
Anm. Steffen Meltzer: Bei Gastbeiträgen handelt es sich um persönliche Meinungen der jeweiligen Autoren, nicht um meine. Die Bewertungen überlasse ich erwachsenen und mündigen Lesern. Meiner Kommentare bedarf es dazu nicht.
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