von Alexander Freitag

Immer mal wieder hatte mich Steffen Meltzer in den letzten zwei, drei Monaten angesprochen: Schreib‘ doch mal wieder was, Alexander! Und, natürlich, an Themen oder Ideen hat es eigentlich nie gemangelt. „Zeitenwende“, „Deutscher Herbst“ und „Stunden der Wahrheit im Land der Illusionen“ waren so die Titel möglicher Beiträge. Ich gehöre ja zu der Sorte Beitragsschreiberlinge, die immer erst den Titel brauchen, und dann den Artikel drumherum bauen. Es war nix mit Drumherumbauen. Allen Titeln zum Trotz. Nicht einmal eine Schreibblockade. Sondern einfach nur eine Müdigkeit. Eine spezielle Form von Müdigkeit. Neben der „News-Fatigue“ gibt es eben auch so etwas wie eine „Chronisten-Fatigue“: Mir fehlte schlicht die Lust, das Motiv, gegen die Wand der Ignoranz der wahlweise paralysierten oder desinteressierten Mehrheitsmilieus in diesem Land anzuschreiben. Man wirft, man muss dies so sagen, ja quasi Perlen vor die Säue: Wie eine Nebelwand schlucken die Mehrheitsdeutschen sowohl alle gegen sie gerichteten Maßnahmen, Vorschriften und Gesetze der von ihnen gewählten Administrationen, als auch alle in ihrem Interesse geschriebenen oder gesagten Realfakten: Diese Deutschen sind in ihrer Mehrheit mittlerweile wie ein totes Pferd, auf das man ohne Rücksicht auf Verluste einpeitschen kann, weil sie sich das gefallen lassen.

Was und warum soll man da noch schreiben?

Vogel-Strauß-Sommer

Psychologen haben natürlich ihren ganz eigenen Blick auf die Menschen. Und ihre Gepflogenheiten. So auch ich. Kaum etwas ist im psychologischen Sinne derzeit so interessant zu beobachten, wie der Deutsche. Wegen seines konsequent durchgezogenen „Sonderweges“. Mittlerweile, ich komme ja aus beiden Richtungen, interpretiere ich Verhalten und Gepflogenheiten der Deutschen praktisch ausschließlich aus klinisch-pathologischer Perspektive. Ist nicht böse gemeint. Aber nicht-klinische Erklärungsmodelle für individuelles Verhalten im gesellschaftlichen Kollektiv fallen mir schon länger nicht mehr ein. Wahn, Manie und Depression – das sind die Erklärungsmodelle, die deutsches Kollektivverhalten am besten erklären können. Leider ausnahmslos klinisch-pathologisch induziert.

Dazu passt eine meines Erachtens weit verbreitete Verhaltenseigenschaft der Deutschen in diesem Sommer. Nicht nur in diesem Sommer, aber in diesem speziell. Denn nach 16 Jahren Merkel-Trance, in der alle Gefahren und Risiken etwas Abstraktes hatten, werden Risiken und Gefahren plötzlich konkret: Die knapp zwei Dekaden lang verdrängte Realwirklichkeit drängt zurück ins Bullerbü-Land. Mit Schmackes. Und die Deutschen? Tun so, als wär nix. Sommer ist’s, die Sonne scheint, wir feiern das Leben – eigentlich nachvollziehbar. Und doch hat es etwas von Vogel-Strauß. Von Wegducken. Von Heile-Welt-Theater. Denn eigentlich jeder weiß, dass dieser Sommer speziell ist. Vielleicht so speziell wie der Sommer 1914. Oder der spezielle Sommer 1932. Oder der spezielle Sommer 1939. Alles spezielle Sommer, die speziell waren, weil ihnen, heiß wie sie waren, spezielle Zivilisations- und Zeitenbrüche folgten.

Der Vogel-Strauß-Sommer 2022 ist, so viel lässt sich sagen, auch so speziell heiß. Mich würde glatt interessieren, wie Victor Klemperer über die Deutschen des speziell heißen Sommers 2022 denkt.

Von der Leichtigkeit des Deins

Im Sommer ist alles leicht. Man muss sich wenig Gedanken um Kleidung machen – je weniger, desto luftiger. Ein sonniger Tag fühlt sich ohnehin schöner an, als einer mit dunkler Wolkenkulisse am Himmel. In diese heitere Aperol-Spritz-, Weber-Grill- und Biergarten-Atmosphäre mischen sich leider diese Gas- und Stromunwettersignale. Hach, gut, dass sie noch weit weg sind. Ach was, das wird dieses Jahr halt alles ein bissel teurer! Cheers! (Denken Sie sich jetzt das Geräusch zweier klingender Aperol-Gläser!) Wir legen da auch was zurück! (Denken Sie sich jetzt das knisternde Geräusch einer Discounterbratwurst auf dem glühenden Weber-Grill!) Und, überhaupt, denen da oben wird schon was einfallen! (Denken Sie sich jetzt das Geräusch zweier anstoßender Weizenbiergläser im Biergarten!). Die seit über 60 Jahren von Aufstieg und Wohlstand verwöhnten Südterrassen-, Gartenteich- und Biergarten-im-Sonnenuntergang-Deutschen haben schlicht keine Vorstellung davon, dass es eben auch mal richtig schief gehen kann. Von der Leichtigkeit des Seins im Land der wärmenden Merkel-Sonne.

Von der Leichtigkeit des Seins zur Leichtigkeit des Deins ist es kein weiter Weg. Jedenfalls dann nicht, wenn man zu den grünen Wohlstands- und Wohlfühlmilieus gehört. Sie, samt und sonders ihrer mittlerweile mehrheitsfähigen Satrapen- und Mitläufermilieus, leben praktisch ausnahmslos auf der Tasche anderer. Die Leichtigkeit des Seins der gewählten und gefühlten grünen Mehrheit im Lande geht auf den Nacken der arbeitenden Klasse. Ihr erwirtschaftetes Sozialprodukt, ihre gezahlten Steuern und Abgaben für allerlei Wohlfühl- und Esoterikprojekte gleich milliardenweise auszugeben, ist die definierte Hauptaufgabe dieser Neo-Feudalklasse, die sich im Wohlbesitz der richtigen Werte, der richtigen Haltung und der richtigen Moral fühlt. Das Geld anderer Leute auszugeben, ohne es selbst verdienen zu müssen – wohl dem, der im grünen Kosmos lebt.

Die Leichtigkeit, mit der am Vorabend des demographischen, ökonomischen und kulturellen Zeitenbruchs in diesem Land gelebt wird, ist die Leichtigkeit des Deins: Ich gebe Dein Geld aus. Und daraus ergibt sich meine Leichtigkeit des Seins.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Wusste schon Karl Marx. Dass auch das Dein das Bewusstsein bestimmen kann, ist die moderne Ergänzung Marx‘ durch die grünen Moral- und Haltungswächter von heute. Und Geldausgeber.

Doch dann kommt der Winter

Ein ewig Sommerland. Mit endloser Sonne. Klimatologisch eher blöd. Aber im Sinne der wahnhaft betriebenen „Erneuerbaren Energien“ eine Art feuchter Traum. Das Lieblingsdeutschland der Grünen ist eine Mischung aus Sahara-Sonne, irischem Dauerregen und ununterbrochenem Nordseewind. Leider hat der ebenso liebe wie derzeit noch genderfreie Gott das so nicht eingerichtet. Das macht der Kugel Eis, kaum mehr der deutsche Energiewende-Endsieg mal kosten sollte, den Garaus. Putins Krieg ist nur der Katalysator, nicht der Verursacher – aber wen stört das im Lande der „Süddeutschen Zeitung“ und den ZDF-Slomkamariettas und Hayalidunjas.

Der Winter kommt. Und mit ihm das Energieproblem. Das unlösbare. Natürlich. Vom schönen Robert lassen sich die Mehrheitsdeutschen noch in Trance labern. Noch scheint ja auch die wärmende Sonne. Weniger Heizung als jetzt braucht es im Jahr nicht. Aber auch die heiße Luft des Kinderbuch-Philosophen wird den dräuenden Energiemangel der Deutschen nicht beheben können. Mit dem Winter kehrt in das Land der Phantasten, der elefantösen Energiewender, der spinnerten Pseudowissenschaftler, bei denen stets „alles ausgerechnet ist“, die Physik zurück. Und die Mathematik. Und die Ökonomik.

Ich mache es, zum Schluss dieses kleinen Beitrags, kurz: Genießen Sie alle die letzten Reste dieses speziellen Sommers. Er ist, möglicherweise, so heiß wie die anderen speziellen Sommer der Deutschen seit Bismarck. Welche speziellen Konsequenzen dieser spezielle Sommer, möglicherweise, haben wird, werden wir abwarten müssen.

Ich gehe davon aus, dass sie speziell sein werden. Möglicherweise.

Zum Autor: Alexander Freitag ist Wirtschaftspsychologe und Lehrbeauftragter für Präklinische Notfallmedizin & Psychiatrie. Er ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“.