von Ulrich Schödlbauer

Laut Gefallenenregister wurde Paul Gerhardt im Zweiten Weltkrieg zweiundzwanzigmal getötet. Dessen ungeachtet behauptet man, die Kirchenlieder stammten von einem anderen. Soviel zum System der Täuschungen.

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Die sozialen Medien sollen am Niedergang des Journalismus schuld sein. Das erinnert an die obstinate Klage der Wissenschaftler: Die Massenuniversität ist’s.

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Schuld am Niedergang der sozialen Medien sind die sozialen Medien. Patienten mit wegzensierten Gliedmaßen nennt man lahm. Wer sich noch immer dort tummelt, will seinen Krankheitsbonus kassieren.

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Der Glaube, mit den Massen kämen die Rosstäuscher, ist ein Aberglaube, der von Rosstäuschern in die Welt gesetzt wurde.

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Kommen die Massen, geht das einst offene System der Begünstigungen in den Untergrund. Doch diese Phase währt in der Regel nur kurz. Wozu dienten Stiftungen, wenn nicht der Schaffung von ›Töpfen‹?

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Horizontale Hierarchien sind das Resultat, der Anspruch der Vielen auf eine begünstigte Existenz der Startpunkt des Rennens.

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Europa, wie es sich kannte, versinkt in der Neukonstruktion der Welt. Man kann auch schreiben: Die Wogen dessen, was es für seine Welt hält – und die restliche Welt von ihm –, schlagen über dem alten Kontinent zusammen.

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Grün ist, wer in dieser Situation »Land!« ruft.

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Das neue Europa wird auf die grüne Wiese gebaut. Es benützt den Ausdruck nicht mehr, seit es sich nicht mehr grün ist. Es will selbst Ausdruck werden, in der Hoffnung, damit bei den neuen Mächten Eindruck zu schinden. Wie auch immer: Das alte Europa steht unter Druck.

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In Ernst Jüngers Roman Heliopolis haben sich die Nazis (oder was im Roman dafür steht) die Energieproduktion des Landes unter den Nagel gerissen und steuern darüber die Wirtschaft. Das gibt dem antifaschistischen Kampf gegen Rechts doch gleich einen Sinn.

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Ein Windrad pro Dach, auf jedem Hütchen ein Rädchen: Nie war der Begriff ›Vision‹ so plastisch wie heute, nie lag er so auf der Hand. Karl Marx wäre erstaunt, seine Idee vom sich selbst versorgenden Menschen gerade auf dem Energiesektor in Erfüllung gehen zu sehen. Noch erstaunter allerdings wäre er angesichts der Erkenntnis, dass es möglich ist, per Vision zu existieren, Geld zu machen und in Saus und Braus zu leben. Man nennt diese Art von Vision ›Blase‹, sie eint Menschen unterschiedlicher Herkunft, aber mit gleichen Interessen, und wartet genüsslich ab, dass sie platzt.

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Man lebt nicht nach der Idee, sondern in der Idee, und wundert sich, wie vielen sie stinkt.

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Im Deutschen klingt ›Wokeness‹ wie ›Weichei‹. Im Englischen trifft das Gegenteil zu. So steuert das phonetische Gedächtnis die Wahrnehmung.

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Nach Auschwitz keine Gedichte – ein früher Fall erfolgreicher Wokeness. Die Gedichte sind schuld – wer sonst? Man mag es kaum glauben, aber – Schwamm drüber! Woher kam dann die Folgeflut von Gedichten? Woher kommt heute die Flut rassisch motivierter Aufmerksamkeit, wie man sie lange Zeit nicht mehr kannte?

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Konservative bewundern den fallenden Baum, solange sie annehmen, sein Fall betreffe sie nicht. Das ist auch ein Standpunkt. Liberale unter ihnen träumen vom Ausweichen.

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Abrisskante: Wer hier stand, den riss es hinab in die Tiefe. Er wollte im Fallen bewahren, das brach ihm am Ende das Kreuz. Die Leute erleben den eigenen Sturz als Fehlverhalten ihrer Umgebung.

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Kommt Zeit, kommt Mensch. Es ist die Zeit, die sich ihre Generationen schafft. Deshalb ist Generationenschelte so müßig.

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Die Zeit, das ist die Summe aller Bewegungen, die in ihr vorfallen. Das Gewimmel macht die Figur.

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Die klassische Universität wurde zur Kommerzuniversität umgebaut, die Kommerzuniversität wandelt sich zur Schamuniversität. Dazu bedarf es keines Umbaus. Der Wunsch, das eigene Tun zu bemänteln, genügt.

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Als letztes Wahrheitskriterium meldet sich die Scham. Damit schließt sich der Kreis und die Wahrheit wird wieder göttlich.

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Der Niedergang des Journalismus ist nichts weiter als der Klammereffekt der ererbten Strukturen. Kohärenz schlägt Konsistenz. Aber nur für eine Weile.

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Wenn der IPCC Sprachregelungen an die Medien verteilt, dann wäre es Aufgabe der Medien, sie auf ihre argumentativen Schwachstellen hin abzuklopfen, statt sie vor der lesenden Menschheit den Tafeln Moses’ gleich aufzurichten. Die Kritik ist so rituell wie der Vorgang selbst.

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Entfernt gemahnt das Paradox einer Kirche ohne Religion an den Konfuzianismus. Wer den Unterschied zwischen Glauben und Gehorsam im Geiste nicht kennt, für den ist alles eins. Wer alles glaubt, was ihm von interessierter Seite vorgesetzt wird, der bleibt am Ende bei ein paar Lieblingsfloskeln hängen und nennt sie: wenigstens das.

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Glaube ringt. Klimaglaube kämpft (und füllt sich die Taschen).

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Es ist besser zu schlucken, bevor die Kröte im Hals steckt.

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Die Reitschuster, Tichy, Maxeiner, Reichelt, Köppel etc.: Sendboten einer Öffentlichkeit, die bloß deshalb so lange auf sich warten lässt, weil man die Zufahrtswege verrammelt hat: Achtung Sturzgefahr! Währenddessen tummeln die wirklichen Alternativen sich auf Kanälen, die nur Ignoranten verwechseln.

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Wie nennt man ein Publikum, das fortwährend Adressen und Adressaten verwechselt? Unbedarft. Wer hat ein Interesse an dieser fortwährend sich erneuernden Unbedarftheit? Keiner. Woraus folgt: Interessiert ist, wer sich (und andere) ausnimmt.

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Meinungsjournalismus blüht am besten auf Unkenntnis. Daher gibt es zwei Arten: der eine mästet sich an der Unkenntnis des Publikums, der andere plündert die eigene.

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Der A-phorismus kommt vor dem B-phorismus. Wer B sagt und dabei A verschweigt, dem hilft kein Alphabet. Sein Jagdrevier ist der Analphabetismus.

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Das Geheimnis des Wissenschaftsbetriebs liegt in der Translatio scientiae. Wer glaubt, dass alle Welt forscht, der täuscht sich beträchtlich. Entscheidend ist, wohin sich die Köpfe drehen.

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Forschungshoheit: Es lohnt, sich diesen Begriff zu merken. Die Europäer besaßen sie bis 1900, die US-Amerikaner seit der Jahrhundertmitte. Seit 2000 driftet sie in den asiatischen Raum: ein Jahrtausendgefühl. Entsprechend wechselt die kulturelle Färbung. Das ist ganz normal. Die Wissenschaft ist ein Chamäleon.

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Wissenschaft: zwanzig Prozent Wissensbeschaffung, achtzig Prozent Kommerz + Sozialverhalten (geschätzt). Das entspräche dem Anteil der Wissenschaft an der Gesamtintelligenz der Gesellschaft.

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Aphorelien: Grüße aus den Hinterzimmern des Denkens an die Schönen und Guten. Sie sollen ruhig wissen, dass sie auf dieser Welt nicht allein sind.

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Jede gesetzeskonforme Forschungsverlagerung erschafft neue kriminelle Milieus. (Suche das Motiv!)

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In der Öffentlichkeit enthält die Behauptung, ›die‹ Wissenschaft habe etwas bewiesen und ihr Gegenteil, keinen Widerspruch, solange die Aussage passt. Ich sage ausdrücklich ›in‹, nicht ›für‹ die Öffentlichkeit. Für die Öffentlichkeit gilt der Satz vom Gleichen: Etwas gilt als bewiesen, wenn zwei Quellen das gleiche schreiben. Wenn alle dasselbe schreiben, sind alle Quelle und der Nachweis erübrigt sich.

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Wer Forschung ins Ausland schafft, um dem Gesetz zu entgehen, und als Berater seiner Regierung Gelder dafür organisiert, der steht über und unter dem Gesetz. Hauptsache, er wird nicht mit ihm konfrontiert.

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Es gibt Unfälle in Labors und Unfälle mit Labors. Journalist ist, wer den Unterschied nicht zu kennen behauptet. Diese Spezies kennt nur die Frage: Mit oder ohne Absicht? Ihr Sinn besteht darin, Verantwortung zu vernebeln. Karthago fällt, wenn die Zeit reif ist.

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Die intelligente Frage ist selten, ob etwas mit oder ohne Absicht geschah. Man erführe gern, wie weit das an der Sache beteiligte Wissen reichte und was sonst noch im Spiel war. Das macht die Corona Papers so aufschlussreich.

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Die Frage nach dem Täter-Motiv ist ein wunderbares Werkzeug, um Motive unterzuschieben. Sie müssen nicht falsch sein, aber sie sind phantastisch.

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Wer Auskunft über seine Motive gibt, ist entweder ein Dummkopf oder er lügt. Die dritte Möglichkeit, Frömmigkeit, besteht immer, aber sie gilt nur für Fromme.

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Wenn man mir hier nicht zuhört, dann gehe ich eben ins Ausland. Dort bin ich wenigstens eines: Ausländer.

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Wer ins Ausland geht, darf sich nicht wundern, als Ausländer gesehen und entsprechend angefasst zu werden. Soll heißen, seine persona transportiert, ungewollt oder nicht, ein politisches Mandat. Dementsprechend konfrontiert ihn das neue Umfeld mit den üblichen Vorurteilen, die meist in krassem Gegensatz zu denen stehen, die ihn im engen Milieu der Kollegen und Freunde erwarten. Er muss sich aber wundern und daraus erwächst die kognitive Dissonanz, die ihn ab sofort überallhin begleitet. Er beginnt, sich nach Hause zu träumen, wo alles normal zugeht. Kommt er ›nach Hause‹, so stellt er fest, dass hier nichts mehr normal ist, und hält sich für einen Weltbürger, der über den Parteien steht. Auch darin irrt er sich.

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Wissenschaft nützt. Aber schützt sie auch? Ja sicher: Sie schützt ihre Pappenheimer. Die anderen lässt sie laufen. Gelegentlich auch ins Verderben.

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Die Nähe des Todes lässt die Menschen kribbelig werden und sie reden darüber, wo es sie juckt. Sie sprechen über ihr geringstes Problem, als sei es ihr größtes.

Zum Autor: Ullrich Schödlbauer ist Philosoph, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Essayist. Er ist Mitautor des Gemeinschaftswerkes „Die hysrterische Republik“

Der Beitrag erschien zuerst in Globkult