Die hauptsächlichen Instrumente dieser Politik sind der Aufbau einer – auch nuklearen – militärischen Drohkulisse, die politische Kriegführung … und der Einsatz von Energieträgern zur politischen Erpressung. Russland-Kenner haben wiederholt auch davor gewarnt, dass die Risikobereitschaft des Kremls in dem Maße wachsen wird, wie seine militärische Kraft (und diejenige Chinas) größer wird und die westliche Staatengemeinschaft nicht entsprechend darauf mit eigenen militärischen Maßnahmen reagiert.

All diese Warnungen wurden von der deutschen Regierung konsequent ignoriert. Die Folge ist, dass wir heute mit einer Situation konfrontiert sind, die jener der Sudetenkrise von 1938 ähnelt. Damals stellte Adolf Hitler die Existenzberechtigung der Tschechoslowakei in gleicher Weise in Frage wie die heutige russische Führung die der Ukraine. Putin ist zwar nicht Hitler, das hält ihn aber nicht davon ab, dieselben perfiden Erpressungsversuche gegen die westliche Staatengemeinschaft zu unternehmen, die glaubt, alle Probleme mit Diplomatie, Rüstungskontrolle und gutem Willen lösen zu können. Hitler hat die Tschechoslowakei zur Geisel genommen, Putin die Ukraine.

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Koalitionspartner von SPD und FDP haben sich über ein Jahrzehnt lang über diese Bedenken hinweggesetzt. Diese Bedenken wurden auch immer wieder von Politikern verbündeter Staaten an sie herangetragen und sind in NATO-Kommuniqués festgehalten, die auch die Unterschrift der früheren deutschen Bundeskanzlerin tragen. Die Bundesregierung hat – im Einklang mit Paris – dennoch stur an ihrer auf „Dialog“ und „Partnerschaft“ setzenden Russlandpolitik festgehalten. Dies war bequem, entsprach dem Harmoniebedürfnis vieler Deutscher und fand den Zuspruch von einem relativ kleinen, aber politisch aktiven Teil der Wirtschaft.”

Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und Putin beweist das gerade. Falls er die Ukrainer mit „russischem Frieden“ überschüttet und seine Truppen einmarschieren lässt, wird ihm große ukrainische Gegenwehr gewiss sein. Doch die NATO wird nicht in der Ukraine kämpfen. Sie wird die an der ukrainischen Grenze liegenden Mitgliedstaaten vertragsgemäß schützen und ist aufgerufen, der Ukraine umfassende Materialhilfen zukommen zu lassen. Definitiv nicht für einen Angriff auf Russland, wohl aber zur Verteidigung gegen einen möglichen russischen Angriff.

Das alles weiß der nüchtern kalkulierende KGB-Mann in Moskau. Er kann sich auf die Passivität der NATO in der Ukraine verlassen, bläst aus innenpolitischen Gründen aber genau die nichtreale Gefahr auf – damit seinen Russen Angst machend und seine Jünger in der Europäischen Union in Wallung bringend. Schuld an dieser Situation tragen stärker die Weicheier im Westen als der brutale Macho im Osten. Auf dessen Worte ist Verlass. Wer ihn umschmeichelt, statt immer Klartext mit ihm zu reden, schafft genau die aktuell durchaus gefährliche Situation. Der Westen muss dem Herrscher in Moskau klarmachen, er bestimmt nicht, welcher Staat bei und mit wem seine Sicherheit organisiert. Das alles ist kein Kampf gegen Russland, es ist die Garantie der Sicherheit von Russlands Nachbarn und Russlands selbst. Dabei ist Reden im Sinne Willy Brandts genauso wichtig wie das Handeln Helmut Schmidts im Rahmen von Gleichgewichtspolitik. Bei alledem unterscheidet sich die Situation von der zu Brandts und Schmidts Zeiten in der größeren Zahl von Telefonen. Es gibt nicht mehr nur das Telefon in Moskau. Die Telefone in Vilnius, Riga, Tallinn, Warschau, Prag, Bratislava, Budapest, Sofia, Bukarest sind genauso wichtig wie die in Kiew, Tiflis und Moskau! Der Frieden ist nur sicher mit all diesen Staaten, bei Achtung von deren Sicherheitsvorstellungen und natürlich nicht gegen die Sicherheit Russlands. Niemand im Westen will Russland angreifen. Der Westen will aber auch wissen, dass Russland die Grenzen nach 1989 nicht revidiert.

Der „Ribbentrop-Molotow-Pakt“ ist schreckliche Geschichte und wird nicht erneuert. So wie auch die „Breschnew-Doktrin“ seit 1985 nicht mehr gilt und durch Putin keine Erneuerung erfahren darf.

Zwei Abschlussbemerkungen

Krieg

Im Moment kursiert im Internet ein Video mit Ben Becker. Darin liest er Jewtuschenkos „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“. Natürlich wollen die Russen keinen Krieg, so wie auch die Völker innerhalb der NATO und in der Ukraine keinen Krieg wollen. Die Antwort auf Becker/Jewtuschenko lautet:

„Meinst du, die Balten, die Polen, die Slowaken, die Ungarn, die Bulgaren, die Rumänen, die Ukrainer wollen überfallen werden?“

Putins mögliches ‚Aha-Erlebnis‘

Viel gehörte wahrlich nicht dazu, in Wladimir Putin die alten Sowjetfeindbilder über den imperialistischen Westen wieder aufleben zu lassen. Die großen Demonstrationen in den 2000er Jahren hatten diesbezüglich möglicherweise katalytische Wirkung in des Geheimpolizeimannes Vorstellungswelt. Nicht nur hunderttausende Russen demonstrierten gegen ihn, unter den Demonstranten befanden sich nicht wenige grünlinksliberale Politiker aus der Europäischen Union und vor allem aus Deutschland. Für einen KGB-Mann wie Putin war das der (willkommene?) Beweis der westlichen Rädelsführerschaft bei der Umsturzbewegung gegen seine Herrschaft. Für KGB und MfS waren und sind Freiheitsbewegungen immer von außen angestiftete Konterrevolutionen. Untertanen und selbst denken? Für Wladimir Putin ist das nicht unvorstellbar.


Annette Heinisch: Studium der Rechtswissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt: Internationales Bank – und Währungsrecht und Finanzverfassungsrecht. Seit 1991 als Rechtsanwältin sowie als Beraterin von Entscheidungsträgern vornehmlich im Bereich der KMU tätig. Sie ist Mitautorin der Buchneuerscheinung Die hysterische Republik.

Gunter Weißgerber: Von 1990 bis 2009 Bundestagsabgeordneter und in dieser Zeit 15 Jahre Vorsitzender der sächsischen Landesgruppe der SPD-Bundestagsfraktion (1990 bis 2005). Den Deutschen Bundestag verließ er 2009 aus freier Entscheidung. 2019 trat er aus der SPD aus. Weißgerber ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“


Anm. Steffen Meltzer: Bei Gastbeiträgen handelt es sich um persönliche Meinungen der jeweiligen Autoren. Die Bewertungen überlasse ich erwachsenen und mündigen Lesern. Meiner Kommentare bedarf es dazu nicht.

A. Heinisch + G. Weißgerber in „Die hysterische Republik“

[/fusion_text][/fusion_builder_column][/fusion_builder_row][/fusion_builder_container]