Autor: Wolfgang Meins

Es lässt sich fachlich ziemlich klar beantworten, ob der Attentäter von Hanau aus rassistischen Motiven sein Attentat beging oder aus einer klar erkennbaren paranoiden Schizophrenie heraus. Das tut dem offiziellen Rassismus-Narrativ aber nicht gut. Eine Fachpublikation des Gutachters des Generalbundesanwaltes spricht da Bände.

Es sieht ganz so aus, als sollte mit dieser Wortmeldung der letzte Vorhang in der Tragödie um die Aufklärung der Motive des Attentäters von Hanau, Tobias R., gefallen sein. Wie die interessierte Öffentlichkeit bereits im November 2020 via Spiegel erfuhr, hatte der Generalbundesanwalt (GBA) den seit 2010 emeritierten Psychiatrieprofessor Henning Saß, einen renommierten gerichtlichen Sachverständigen, mit einem psychiatrischen Gutachten über Tobias R. beauftragt. Dieses (posthum) erstattete Gutachten ist seinerzeit weder veröffentlicht worden, noch hat der GBA dazu bis heute öffentlich Stellung bezogen.

Auch in der abschließenden Erklärung des GBA zur Einstellung der Ermittlungen vom 16.12.2021 wird dieses Gutachten mit keinem Wort erwähnt, sondern nur lapidar festgestellt: „Als Ergebnis der Ermittlungen ist festzuhalten, dass Tobias R. (seine Taten) aus einer rassistischen Motivation heraus“ begangen habe. Im Klartext: Die psychische Störung des Tobias R. – bekanntlich eine schwere paranoide Schizophrenie – soll bei der Tat keine relevante Rolle gespielt haben; ursächlich war laut GBA eine krankheitsunabhängige, rassistische Gesinnung.

Das deckt sich zwar mit der praktisch unmittelbar nach der Tat und bis heute anhaltenden, so gut wie einhelligen politmedialen Einschätzung, steht aber doch in einem gewissen Gegensatz zu den Ergebnissen des GBA-Gutachters Saß, der sich nun kürzlich selbst zu Wort gemeldet hat – in Form einer frei zugänglichen und recht ausführlichen Fach-Publikation. Zum öffentlichen Beschweigen seiner Expertise durch den GBA äußert Saß sich nicht und verschweigt dem Leser darüber hinaus sogar, für den GBA in dieser Sache bereits ein Gutachten erstellt zu haben. Das ist auch deshalb verstörend, weil Saß in seinem Artikel ganz offensichtlich auch Informationen aus den Ermittlungsakten des GBA verwendet. Etwas kryptisch weist er in diesem Zusammenhang lediglich auf „Materialien“ hin, „die ursprünglich im Rahmen einer Begutachtung gewonnen wurden“, und behauptet, sich als „Grundstock“ auf „zumindest zeitweise allgemein“ zugängliche Quellen gestützt zu haben. Woher seine nicht aus diesem „Grundstock“ sprudelnden Quellen stammen, verschweigt er dem Leser.

Um es vorwegzunehmen: Im Kern, aber auch nur im Kern, bestätigt Saß die Einschätzung des Autors dieser Zeilen und eines Kollegen, wenn er ganz zum Schluss, zwar etwas verhuscht und verklausuliert, aber letztlich doch eindeutig resümiert, dass „krankheitsbedingt“ (Anm.: gemeint ist eine paranoide Schizophrenie) es dem Täter an der „Fähigkeit zur einsichtsgemäßen Handlungssteuerung fehlte“. Wäre es also – bei einem noch lebenden Angeklagten – zu einem Prozess gekommen, hätte das Gericht sehr wahrscheinlich eine Schuldunfähigkeit des Täters festgestellt.

Eine lückenhafte und tendenziöse Zusammenfassung

Viele Leser von wissenschaftlichen Artikeln begnügen sich bekanntlich mit der Lektüre der Zusammenfassung. Insofern wird von allen Beteiligten zu Recht großer Wert darauf gelegt, dass in der Zusammenfassung auch und vor allem die zentralen Ergebnisse einer Studie aufgeführt werden. Im hier vorliegenden Fall ließ man es aber durchgehen, dass Saß in der Zusammenfassung seine zentrale forensisch-psychiatrische Beurteilung – krankheitsbedingtes Fehlen der Handlungssteuerung – unerwähnt lässt. Selbst der Begriff Schizophrenie taucht dort nicht auf. Stattdessen ist blumig und selbst im Lichte seiner Argumentation höchst fragwürdig die Rede von einem „in einer Liebesenttäuschung“ entstandenen „Verfolgungswahn, der später durch fremdenfeindlich-völkische Ideologien und Verschwörungsdenken ergänzt wurde“.

Damit nähern wir uns dem Hauptproblem des Artikels, das sich im ebenso schwülstig wie gewichtig daherkommenden Titel andeutet: „Zur Amalgamierung von Psychose, rassistischer Ideologie und Verschwörungsdenken beim Terrorakt von Hanau“. Zudem hält dieser Titel nicht, was er verspricht – doch dazu später mehr. Zunächst eine Anmerkung zu eher handwerklichen Problemen, die einem erfahrenen Sachverständigen eigentlich nicht unterlaufen sollten: Saß lässt jede kritische Distanz zu seinen Quellen vermissen, vor allem zu den von der Bundesanwaltschaft befragten Zeugen.

Eine gewisse Zurückhaltung wäre hier aber angezeigt gewesen, hat doch der GBA bereits wenige Stunden nach der Tat sich auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit als die hier zentralen Tatmotive festgelegt. Mit einer ergebnisoffenen und unvoreingenommenen Ermittlung ist das nur schwer vereinbar. Zumal diese Festlegung massiv verstärkt wurde durch ein politmediales Dauerfeuer, von dem Zeugen – etwa frühere Mitschüler oder Arbeitskollegen des Täters – natürlich nicht völlig unberührt bleiben, weshalb sie in ihrem Rückblick auf den Attentäter bestimmte Begebenheiten nun möglicherweise systematisch anders deuten, etwa als schon damals zu beobachtende Hinweise auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Amalgam ist auch nicht mehr das, was es mal war

Mit dem in der Überschrift verwendeten Begriff „Amalgamierung“ will Saß dem Leser erkennbar vermitteln, dass es sich bei Tobias R. aus psychiatrischer Sicht um etwas ganz Besonderes handelte: keinesfalls um eine Person mit einer Feld-Wald-und-Wiesen-Schizophrenie, sondern um einen speziellen Fall von zwar eindeutig, wie er durchaus eingesteht, schizophreniebedingter (v.a. paranoider) Symptomatik, die aber fest, ja geradezu untrennbar – eben wie ein Amalgam – mit einer krankheitsunabhängigen rassistischen Ideologie verbunden gewesen sei. Eine überzeugende Beweisführung gelingt Saß allerdings nicht. Es bleibt letztlich eine fixe Idee.

Zunächst stellt Saß zutreffend fest, dass Tobias R. seit Ende 2001/Anfang 2002 an einer paranoiden Schizophrenie litt, die sich bis ins Jahr 2004 mehrfach deutlich durch einschlägige Symptome bemerkbar gemacht habe. Die damaligen Themen seines paranoiden Wahns seien gewesen: „Überwachung, Beobachtung, Bespitzelung und Verfolgung“, teils unter Beteiligung von Stasi und CIA – also das übliche Programm. Nachvollziehbar schildert Saß dann für die Jahre vor dem Geschehen in Hanau vom 19. Februar 2020 „das Bild einer eingeschränkten, kargen Lebensform ohne intensivere soziale Kontakte, Freundschaften oder gar Partnerbeziehungen“. Hinweise auf paranoide Wahnsymptome seien ab 2005 bis Frühjahr 2019 dann nicht mehr dokumentiert.

Im Reich der Spekulation

Aber das heißt bei dieser Erkrankung nicht zwingend, dass nicht bestimmte, abgeschwächte Elemente des früheren Wahnsystems im Denken und Erleben des Tobias R. als eine Art Hintergrundrauschen oder auch Matrix weiterhin vorhanden waren, in die Ereignisse und Erlebnisse eingeordnet wurden. Für diesen Zeitraum stößt also eine posthume Begutachtung, die hier ohne irgendwelche psychiatrischen Behandlungsunterlagen und kenntnisreiche Zeugen, wie etwa eine Ehefrau oder einen langjährigen engen Freund, auskommen muss, an enge Grenzen. Was in diesen Jahren im Kopf des Tobias R. – ungeachtet seiner nahezu durchgehenden Berufstätigkeit – tatsächlich vorgegangen ist, weiß niemand. Man befindet sich hier ganz überwiegend im Bereich der Spekulation, was Saß klar zu benennen versäumt.

Ab dem Frühjahr 2019, das wiederum schildert Saß problemlos nachvollziehbar, nahm die Schizophrenie bei Tobias R., vorrangig in Gestalt wahnhaften paranoiden Erlebens, wieder rasant Fahrt auf, was im November bekanntlich zu je einer wirren Anzeige des Tobias R. beim Generalbundesanwalt und der Staatsanwaltschaft Hanau führte, die folgenlos blieben. In diesen Anzeigen habe sich, so Saß zutreffend, ein von Verfolgungs-, Beeinträchtigungs- und Größengedanken bestimmtes Wahnsystem gezeigt. Im Gegensatz zu den einige Wochen später, zeitnah zur Tat von Tobias R. erarbeiteten Manifesten hätten in den beiden Anzeigen laut Saß „Inhalte rassistischer und fremdenfeindlicher Art“ kaum eine Rolle gespielt.

Die aus fachlicher Sicht deutlich wahrscheinlichste Erklärung für diese, insgesamt geringen, inhaltlichen Unterschiede zwischen Anzeigen und Manifesten ist doch wohl, dass in den Wochen vor der Tat die Schizophrenie – vor allem das wahnhafte Erleben in Verbindung mit akustischen Halluzinationen in Form von Stimmenhören – noch einmal an Dynamik zugelegt hat. Im Rahmen dieser finalen Zuspitzung wurden weitere Themen in das Wahnsystem integriert, die, isoliert betrachtet und wenn man denn will, als fremdenfeindlich bezeichnet werden können, etwa wenn von „ausländischen Volksgruppen“ die Rede ist, die ebenfalls zu vernichten seien.

Taktische Gründe

Eine Erweiterung des Wahnsystems bei florider Schizophrenie ist nichts Besonderes. Dabei zeigen Kranke mit einem vorrangig paranoiden Wahn nun einmal eine Affinität zu Themen, in denen neben Geheimdiensten häufig auch das wahnhaft ins Bedrohliche verzerrte Fremde eine bedeutsame Rolle spielt – weniger dagegen die deutsche Oma von gegenüber, zumindest, so lange es sich bei ihr nicht um einen Spitzel von IS, CIA oder, jetzt wahrscheinlich hoch im Kurs stehend, Putin handelt.

Saß hingegen gibt sich allen Ernstes davon überzeugt, dass Tobias R. sein angeblich schon länger bestehendes fremdenfeindlich-rassistisches Gedankengut bei den beiden Anzeigen im November 2019 aus „taktischen Gründen“ verschwiegen habe – eine ausgesprochen steile These. Um welche taktischen Gründe es sich dabei gehandelt haben soll, erläutert er allerdings nicht näher. Und wie soll überhaupt eine solche Trennung bzw. ein bewusstes Verschweigen bei einer „Amalgamierung“, also einer bombenfesten Verbindung von Wahn und fremdenfeindlich-rassistischer Gesinnung, funktionieren?

Die Suche nach fremdenfeindlich-rassistischem Gedankengut

Aber das ist nur ein Teil der äußerst fragwürdigen Argumentation von Saß. Der andere Teil berührt die Frage, ob denn bei Tobias R. bereits in den Jahren vor dem Attentat eine (krankheitsunabhängige) fremdenfeindlich-rassistische Gesinnung bestand. Denn nur dann hätte seine Theorie des Verschweigens aus „taktischen Gründen“ zumindest einen Hauch von Plausibilität. Dementsprechend widmet Saß dem „fremdenfeindlich-rassistischen Gedankengut“ des Attentäters ein eigenes Kapitel, dessen Umfang sich allerdings umgekehrt proportional zum Erkenntnisgewinn verhält.

Hier einige typische Beispiele: „Bei der Durchsuchung des Elternhauses fand sich im Wohnzimmer eine ganze Reihe von Büchern mit rechtskonservativem und nationalistischem Inhalt.“ Ob es im Wohnzimmer auch andere Bücher gab, ob es sich dabei nicht ausschließlich um die Literatur des Vaters handelte oder ob darunter sich auch die „laut Akten“ von Tobias R. zwischen 2013 und 2019 bestellten „Militariaschriften“ befanden, lässt Saß ebenso offen wie die Frage, wofür das im Hinblick auf eine rassistisch-fremdenfeindliche Gesinnung denn nun genau sprechen soll.

Allerdings, so Saß gewichtig, habe Tobias R. laut Zeugenaussagen „allgemeine Äußerungen gegen nichtintegrierte Ausländer gemacht“. Frauen mit Kopftuch „hätten in Deutschland nichts zu suchen“. Ein Arbeitskollege habe ca. 2009 „ausländerkritisches Verhalten“ beobachtet, etwa die Weigerung, Fußballspiele der deutschen Nationalmannschaft im TV anzuschauen, „da dort nur noch Araber und Afrikaner spielen würden“. Ein schönes Beispiel für eine wahrscheinlich wenig valide Zeugenaussage.

Denn, wie sich sofort ermitteln lässt, spielten 2008/9 weder Araber noch Afrikaner in der Nationalmannschaft, sondern nahezu ausschließlich Deutsche, die zudem auch deutsch aussahen. Der einzige Verdächtige wäre der in Esslingen geborene „Deutschtürke“ S. Tasci gewesen. Resümierend kommt Saß dann auch nicht umhin festzustellen, dass „über dezidiert rassistische und fremdenfeindliche Einstellungen oder Äußerungen wenig bekannt geworden“ sei. Kurz gesagt: viel heiße Luft, wenig Substanz. Oder: Die Beweislage über eine bereits länger vor der finalen Tat vorhandene rassistische oder fremdenfeindliche Gesinnung steht auf äußerst wackligen Füßen – um es zurückhaltend zu formulieren.

Mut ist ein rares Gut

Für den kritischen und informierten Zeitgenossen ist kaum zu übersehen, dass Saß – wie wahrscheinlich auch in seinem nicht veröffentlichten Gutachten für den GBA – einen fachlich nicht solide fundierten, sondern am ehesten aus anderen Motiven geleiteten Versuch unternimmt, die Mär vom rassistischen Attentäter aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig kommt er, auch wenn es ihm erkennbar schwerfällt, angesichts der erdrückenden Beweislage nicht umhin – ganz so weit sind wir noch nicht –, die unübersehbare schwere paranoide Schizophrenie und eine dadurch nicht mehr mögliche „einsichtsgemäße Handlungssteuerung“ anzuerkennen.

Es verwundert schon sehr, dass diesem hier besprochenen Artikel von den Herausgebern kein Editorial an die Seite gestellt wurde, in dem sowohl konkurrierende Einschätzungen zu Tobias R. und seiner Tat als auch das Schweigen der deutschen Psychiatrie zur politischen Instrumentalisierung eines psychisch kranken Straftäters hätten thematisiert werden können. Aber das erfordert in heutigen Zeiten doch schon etwas Mut, und der ist ein rares Gut.

Der Beitrag erschien zuerst auf achgut.com

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich. Prof. Meins ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“