Am 28.01.202103.02.2021 und 10.03.2021 berichtete ich auf achgut.com über die erfolgte Festnahme eines Drogendealers, der mehrfach auf Polizeibeamte geschossen haben soll. Beim ersten Versuch schoss der zu Kontrollierende mit seiner Pistole auf einen Polizisten, der das Feuer erwiderte. Zwei hinzukommende Polizeibeamtinnen hielten am Tatort an. Anstatt in das Tatgeschehen aktiv einzugreifen, sollen sie bei dem Schusswechsel kopflos die Flucht ergriffen haben, indem sie einen zivilen PKW samt Fahrerin und deren Handy kaperten. Anschließend fuhren sie damit mutmaßlich ziellos durch die Gegend. Ihr Polizeifahrzeug stand währenddessen mit einer Maschinenpistole, Munition und weiterer Ausstattung unverschlossen vor Ort. Der Täter wurde Stunden später durch einen SEK-Trupp in einem Hinterhof festgenommen.

Über das Ereignis der besonderen Art hatte die Westfalenpost in mehreren Artikelserien umfangreich berichtet. Auch darüber, dass einer der Elitepolizisten den schießfreudigen Drogenabhängigen als „Du Wichser“ tituliert hatte, nachdem er, verletzt am Boden liegend, noch mit einem Messer Polizeibeamte bedroht habe.

Das angeführte Lokalblatt berichtete, dass die Verantwortlichen der Polizei über die Flucht der beiden Polizistinnen in den Ermittlungsakten nichts erfasst hatten. Nach Staatsanwalt Nils Warmbold soll „nichts, aber auch wirklich gar nichts von alledem in den Akten“ gestanden haben. Ja, wenn da schlussendlich nicht die „gekidnappte“ Fahrerin über das eigenartige Verhalten der beiden uniformierten „Anhalterinnen“ im Zeugenstand ausgesagt hätte. Weder der Richterin noch dem Staatsanwalt, geschweige dem Verteidiger waren bis zu diesem Zeitpunkt die konkreten Fluchtumstände der Beamtinnen bekannt.

Von Informationsdefiziten war auch über das Verhalten des Landrates Olaf Schade (SPD) als Chef der Kreispolizeibehörde zu lesen, das wiederum die CDU auf die Palme brachte und der Westfalenpost zur Spekulation Anlass gab, ob er damit vielleicht seine eigene Wiederwahl nicht gefährden wollte, denn die ominöse Flucht geschah ausgerechnet vor der Landratswahl.

Tagelang über den Fluchtverlauf der Beamtinnen gerätselt

Ein 60-jähriger Polizeidirektor, beauftragt mit internen Ermittlungen, sagte im Zeugenstand aus, dass er sich in seiner Dienststelle tagelang über den Fluchtverlauf der Beamtinnen selbst ein Bild zusammenschnipseln musste. Auch der Chef der zuständigen Mordkommission soll vor Gericht recht wenig zur Sache beigetragen und sich in Widersprüche verwickelt haben. Eine junge Kollegin musste ihn im Zeugenstand korrigieren. Gesamtumstände, die nicht nur einmal bei den anwesenden Juristen ein erhebliches Stirnrunzeln ausgelöst hätten.

Neuerscheinung, hier vorbestellen

Um den eigentlichen Täter ging es auch, ein Kasache, der in der letzten Artikelfolge der Westfalenpost als 37-jähriger Ennepetaler bezeichnet wird. Dieser berief sich gegenüber dem Gericht u.a. darauf, sich bei seiner Festnahme erschrocken und vor lauter Blaulicht die Orientierung verloren zu haben. Ein Gerichtsgutachter attestierte dem jungen Mann eine „verminderte Schuldfähigkeit“. Durch die schlampigen Ermittlungen und aktenkundige Erfassung (Glaubwürdigkeit!) der zuständigen Polizeibeamten konnten sich Vitalij K. und sein Verteidiger Hoffnung auf ein abgemildertes Urteil machen.

Die Vorsitzende Richterin Heike Hartmann-Garschagen beanstandet erwartungsgemäß die unsaubere Arbeit der Polizei, die nun gezwungenermaßen strafmildernd zugunsten des Angeklagten gewertet werden muss. Weiterhin urteilt sie: „Wir haben eine Akte, die bestimmte Dinge stärker heraushebt als andere. Das mag Zufall sein, aber man muss sagen, dass durch eine solche Aktenführung die Verteidigungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt sind. Der Verteidiger hat seine Vorwürfe zu Recht erhoben.“

Anmerken möchte ich: Natürlich hat die Polizei gemäß Strafprozessordnung alles Be- und Entlastende vorurteilsfrei zu ermitteln. Die Staatsanwaltschaft ist Herrin des Verfahrens und/oder das Gericht urteilt. Lückenhafte Ermittlungen, keineswegs einmalige Vorgänge, entpuppen sich dann schnell als ein Bärendienst. In dem hier dargelegten Fall wurden Aussagen und Umstände mangelhaft erfasst, Projektile nicht ausreichend untersucht, Videos nur teilweise verschriftlicht oder vom Leiter der Mordkommission nicht vollständig angesehen.

Glück, dass in die schusssichere Weste getroffen wurde

Der Schusswaffeneinsatz gegen den Polizeibeamten wurde als „versuchter Totschlag“ abgemildert, die Verletzungen seien „nicht sehr schlimm“ gewesen, so die Vorsitzende. Gleichzeitig räumt die Richterin ein: „Wir können am Ende von Glück reden, dass der Angeklagte in die schusssichere Weste getroffen hat und der Polizeibeamte nicht verstorben ist“. Hinzu kamen ein tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte, gefährliche Körperverletzung und ein Verstoß gegen das Waffengesetz. Nun gut, vorbestraft ist er auch noch. Die Mordversuche spielten somit keine Rolle mehr und wurden eingestampft. Am Ende sorgte das bewaffnete Handel treiben mit Heroin für den wichtigsten Strafrahmen. Das Urteil im Namen des Volkes: Sieben Jahre und sechs Monate Freiheitsentziehung.

Als strafmildernd wurden sein Geständnis und seine Drogenabhängigkeit gewertet. Das Gericht folgte dem Sachverständigen: Der unter Drogen Stehende habe auch nicht auf den Polizeibeamten geschossen, um sich seiner Festnahme zu entziehen, sondern um keinen Entzug machen zu müssen. Die Richterin verliest in ihrem Urteil: „Er hörte die Gespräche und bekam erhebliche Angst vor den Entzugserscheinungen. Die Kammer glaubt, dass er vor den körperlichen Folgen des Entzugs Angst hatte.“ Zugute gehalten wurde ihm außerdem, dass er von einem Oberschenkeltreffer bleibende Schäden davon trug – und in Lebensgefahr geschwebt habe.

Vitalij K. hatte in der Tatnacht massiv Rauschmittel zu sich genommen, nachdem er vorher 52 Gramm Heroin gekauft hatte. Einen Teil wollte er weiterverkaufen, um seinen Drogenkonsum zu finanzieren. Seine Pistole will er nur zu seinem Schutz vor anderen Drogendealern bei sich gehabt haben. In Gevelsberg geriet er in eine polizeiliche Kontrolle.

Ich habe die Zeilen überwiegend, bis auf wenige Ausnahmen, anhand der medialen Berichterstattung, weitestgehend frei von persönlichen Bewertungen wiedergegeben. Möge sich jeder selbst sein persönliches Urteil über den Fall bilden.

Gegen die Geflüchteten soll separat Anklage erhoben werden. Konkret gemeint sind die beiden Polizeibeamtinnen.

Das Ende der Geschichte ist noch nicht geschrieben.

Steffen Meltzer, Mitautor von „Die hysterische Republik“, Neuerscheinung am 15.06.2021, Vorbestellung ab sofort möglich

Der Beitrag erschien zuerst auf achgut.com