von Wolfgang Meins
Am heutigen 19. Februar jährt sich der Anschlag von Hanau zum fünften Mal. Es wird mit Kundgebungen gerechnet, die „Haltung“ gegen „Rassismus“ und „Rechts“ zeigen. Eine rituelle Beschwörung, die nichts mit dem tatsächlichen Krankheitsbild des Täters zu tun hat.
Nach jahrelangem Streit fiel in Hanau – kurz vor dem fünften Jahrestag des Attentats – endlich die Entscheidung: „Das zentrale Mahnmal für die neun Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau wird vor dem zukünftigen „Haus für Demokratie und Vielfalt“ am Kanaltorplatz errichtet. Der Bereich rund um das Mahnmal wird offiziell den Namen „Platz des 19. Februar“ tragen.“ Ein in Planung begriffenes „Haus für Demokratie und Vielfalt“ soll die Gedenkstätte vervollständigen. Nach meinem Wissen handelt es sich um die erste Gedenkstätte, die in Deutschland für die Opfer eines schuldunfähigen Täters errichtet wird, denn der an Schizophrenie erkrankte Tobias R. beging seine fürchterliche Tat unter dem Einfluss von halluzinierten Stimmen und einem Wahnsystem, das ihm letztlich keine andere Wahl ließ, als zu töten.
Der Generalbundesanwalt und Minister Seehofer
Der Täter von Hanau, der 43-jährige Tobias R., erschoss am späten Abend an verschiedenen Tatorten neun Personen mit Migrationshintergrund. Anschließend, nach Rückkehr in die nahe gelegene Wohnung, noch seine Mutter und dann sich selbst. Bereits in der Tatnacht, und bekräftigt am nächsten Tag, bezeichnete der damalige CSU-Bundesinnenminister Seehofer die Tat als einen „eindeutig rassistisch motivierten Terroranschlag“. Der Generalbundesanwalt (GBA) und die allermeisten Politiker und Medien übernahmen bis heute kritiklos dieses Framing, so dass – entgegen aller Evidenz – die Tat als fremdenfeindlich oder eben rassistisch motiviert bewertet wird.
Im Strudel einer schizophrenen Psychose
Wenige Stunden nach der Tat war aber bereits klar, dass der Täter hochwahrscheinlich sich von ganz anderen Motiven leiten ließ. Denn er hinterließ im Netz ein 24 Seiten umfassendes, wirres Manifest aus dem November 2019, das mir kurz nach der Tat noch in Auszügen samt eines darauf Bezug nehmenden Videos vorlag, aber kurz danach vom Netz genommen wurde. Aus diesem Material drängte sich dem Betrachter geradezu auf, dass wir es hier mit einem wahnhaften Täter zu tun haben, mit einem entsprechend veränderten Erleben und Denken und daraus resultierend einer bizarren und unkorrigierbaren Fehlbeurteilung der Realität.
Inhaltlich handelte es sich dabei um einen Verfolgungswahn, in dem auch Größenideen anklingen: Ein nicht genau benannter Geheimdienst überwache ihn, aber nicht nur ihn. Er sei etwas ganz Besonderes, einige bezeichneten ihn als „Genie“, denn als Einziger habe er die Überwachung bemerkt. Wie tiefgreifend der Täter in den Strudel seiner Psychose gezogen war, wurde besonders deutlich an den Stellen des Manifestes, in denen es um seine „Abneigung“ gegen bestimmte Völker und die Vernichtung großer Teile der Weltbevölkerung geht.
In diesem Rahmen könne er sich auch eine „Halbierung“ der deutschen Bevölkerung vorstellen. Darüber hinaus klingt in wirrer Form an, die Erde vor ihrer Entstehung mittels einer „Zeitschleife“ vernichten zu wollen, um das spätere „Millionenfache Leid“ zu vermeiden. Aber zu dieser Rettung sei nur ein Teil der Menschheit befähigt, der andere Teil müsse vorher eliminiert werden. Die Frage, ob dieser Wahn sich nun bei Tobias R. auf dem Boden einer „schon immer“ vorhandenen fremdenfeindlichen, rassistischen oder ganz andersartigen Gesinnung entwickelt hatte oder nicht, konnte so kurz nach der Tat selbstverständlich niemand auch nur halbwegs fundiert beantworten.
Ein Brief an den Generalbundesanwalt
Angesichts dieser Befundlage und der oben erwähnten frühen und einseitigen Festlegung auch des Generalbundesanwaltes schrieb ich drei Tage nach dem Attentat einen offenen Brief an den GBA Dr. Frank, in dem ich ihm neun Fragen stellte. Ganz vorrangig ging es dabei darum, ob beim Täter zur Tatzeit nicht aller Wahrscheinlichkeit nach eine schwere psychische Störung im Sinne einer Schizophrenie vorgelegen habe, die zum einen eine Schuldunfähigkeit hochwahrscheinlich mache und zum anderen – zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt – keine Festlegung auf krankheitsunabhängige Gesinnungen oder Motive zuließe.
Vier Woche später antwortete der GBA und betonte, dass die Ermittlung der Motivlage selbstverständlich seine Aufgabe sei, ebenso wie die Frage, ob und inwieweit eine etwaige psychische Erkrankung eine Rolle gespielt habe und welche Wechselwirkungen zwischen Krankheitsbild und terroristischer Tatbegehung bestünden.
Basales zur Schizophrenie
Für den Leser mag es vielleicht hilfreich sein, an dieser Stelle etwas Genaueres zu der Störung zu erfahren, um die es hier vorrangig geht, nämlich der Schizophrenie.
Typischerweise erkranken Männer im jungen Erwachsenenalter, mit einem Risiko von etwa 0,6 Prozent. Bevor sich die typischen Symptome zeigen, besteht häufig ein längeres prodromales Stadium mit nur wenigen und unspezifischen Symptomen, meist verbunden mit Leistungsabfall und sozialem Rückzug. In vielen Fällen entwickelt sich erst nach mehreren Jahren ein Krankheitsschub mit der typischen psychotischen Symptomatik: Wahnvorstellungen, oft zusammen mit akustischen Halluzinationen in Form von kommentierenden oder auch befehlenden Stimmen, Denkzerfahrenheit, Erregung oder auch Apathie.
Vor allem in diesen Zuständen geht von den Betroffenen – besonders den jüngeren Männern – ein beträchtliches Gewaltrisiko aus: Im Vergleich zur Normalbevölkerung ist das Gewalttäter-Risiko 4-fach, und das Risiko, ein Tötungsdelikt zu begehen, mindestens 10-fach erhöht. Erschwerend kommt eine vielfach fehlende Krankheitseinsicht hinzu, wie auch bei Tobias R., der nach einer wohl recht langen Prodromalphase, einen ersten psychotischen Schub zwischen 2002 und 2004 mit Verfolgungsideen entwickelte und einen weiteren Schub im letzten Quartal 2019, der dann zum Attentat führte. Erwähnt sei noch, dass es nach Abklingen der akuten psychotischen Symptomatik meist unmöglich ist, einen inhaltlichen Bezug zwischen (primärer) Persönlichkeit und Wahninhalten herzustellen. Die Krankheit hat vielmehr ihre ganz eigenen Gesetze.
Wie ging es nach dem Attentat weiter?
Zunächst erschien im März 2020 in einer Fachzeitschrift (hinter der Bezahlschranke) eine gutachtlich-psychiatrische Stellungnahme eines renommierten deutschen forensisch-psychiatrischen Sachverständigen (Prof. Kröber) mit dem aus fachlicher Sicht auch erwartbaren Ergebnis: Der Täter „ist schuldunfähig, denn krankheitsbedingt muss er die Tat mit zwingender Notwendigkeit durchführen; der schizophrene Wahn lässt ihm keine Wahl. Die Willenssteuerung ist aufgehoben, die Konzepte, zu denen das wahnhafte Denken sich durcharbeitet, sind im strikten Sinn alternativlos, und die Unrechtseinsicht in Wahnwelten verloren gegangen.“
Abschließend beklagt Kröber zu Recht, „dass man mit einer gewissen Wahrheitsunlust die schizophrene Erkrankung nicht als entscheidenden Hintergrund der Taten benennen mag, sondern glaubt, diese seien durch Rassismus hinreichend begründet“.
Im Dezember 2021 stellt der GBA die Ermittlungen ein, ohne in seiner Erklärung auch nur ein Wort zur psychischen Verfassung des Täters zu verlieren. Und das, obwohl man dem Psychiater Prof. Henning Saß einen Gutachtenauftrag in dieser Sache erteilt hatte. Doch zu dessen Ergebnissen findet sich nicht ein einziges Wort in der abschließenden Erklärung des GBA. Lediglich einmal geht es in der GBA-Erklärung um die psychische Situation des Täters. Bei ihm hätten – nicht näher beschriebene – „psychische Beeinträchtigungen“ bestanden. Das war’s.
Das Gutachten des GBA-Sachverständigen
Prof. Henning Saß veröffentlichte sein Gutachten im April 2022 frei zugänglich in einer einschlägigen Fachzeitschrift. Nicht ohne Grund lautete der Titel meiner damaligen Auseinandersetzung mit diesem Gutachten: „Hanau-Attentat – Der Eiertanz des Gutachters“. Um es vorwegzunehmen: Im Kern bestätigt Saß meine Einschätzung und die des o.e. Prof. Kröber, wenn er ganz zum Schluss, zwar etwas verhuscht, aber letztlich doch eindeutig resümiert, dass „krankheitsbedingt“ (Anm.: gemeint ist eine paranoide Schizophrenie) es dem Täter an der „Fähigkeit zur einsichtsgemäßen Handlungssteuerung fehlte“. Wäre es also – bei einem noch lebenden Angeklagten – zu einem Prozess gekommen, hätte das Gericht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Schuldunfähigkeit des Täters festgestellt.
Bekanntlich begnügen sich viele Leser von wissenschaftlichen Artikeln mit der Lektüre der Zusammenfassung. Auch deshalb wird gemeinhin großer Wert darauf gelegt, dass dort auch die zentralen Ergebnisse einer Studie oder eben eines Gutachtens aufgeführt werden. Im hier vorliegenden Fall ließ man es aber durchgehen, dass Saß in der Zusammenfassung seine zentrale forensisch-psychiatrische Beurteilung – (wegen akuter Schizophrenie) krankheitsbedingtes Fehlen der Handlungssteuerung – unerwähnt lässt. Stattdessen ist blumig und selbst im Lichte seiner Argumentation mehr als fragwürdig die Rede von einem „in einer Liebesenttäuschung“ entstandenen „Verfolgungswahn, der später durch fremdenfeindlich-völkische Ideologien und Verschwörungsdenken ergänzt wurde“.
Keine überzeugende Argumentation
Der Titel des Saß-Gutachtens lautet bedeutungsschwanger: „Zur Amalgamierung von Psychose, rassistischer Ideologie und Verschwörungsdenken beim Terrorakt von Hanau“. Saß gibt sich allen Ernstes davon überzeugt, dass Tobias R. sein angeblich schon länger bestehendes und krankeitsunabhängig entstandenes fremdenfeindlich-rassistisches Gedankengut bei den beiden von ihm erstatteten Anzeigen im November 2019 aus „taktischen Gründen“ gegenüber den Behörden verschwiegen habe. Um welche taktischen Gründe es sich dabei gehandelt haben könnte und wie das einer völlig in seiner Psychose gefangenen Person gelingen soll, erläutert er allerdings nicht.
Aber gibt es überhaupt stichhaltige Beweise dafür, dass bei Tobias R. bereits in den Jahren vor dem Attentat mit hinreichender Sicherheit eine krankheitsunabhängige fremdenfeindlich-rassistische Gesinnung bestand? Nein, die gibt es nicht, denn Saß, der dem „fremdenfeindlich-rassistischen Gedankengut“ des Attentäters gar ein eigenes Kapitel widmet, kann nur unspezifische Banalitäten, aber keine wirklichen Beweise anführen: etwa im Wohnzimmer des zudem ja gemeinsam mit seinen Eltern bewohnten Reihenhauses gefundene Bücher mit „rechtskonservativem“ und „nationalistischem“ Inhalt oder die auf ca. 2009 datierte Aussage eines Arbeitskollegen, dass Tobias R. keine Fußballspiele der deutschen Nationalmannschaft im TV mehr anschaute, „da dort nur noch Araber und Afrikaner spielen würden“. Wie sich leicht ermitteln lässt, spielten 2008/9 aber weder Araber noch Afrikaner in der Nationalmannschaft, sondern – abgesehen von einem „Deutschtürken“ – ausschließlich Deutsche, die zudem auch deutsch aussahen.
Auch wenn es bei dem Täter nur zwei gut dokumentierte psychotische Episoden gab, 2002–2004 und ab 2019, bedeutet das aus fachlicher Sicht selbstverständlich nicht zwingend, dass in der Zwischenzeit die wahnhafte Symptomatik sich durchgängig und zu 100 Prozent zurückgebildet haben muss. Ein Problem, das Saß aus guten Gründen erst gar nicht thematisiert.
Der Hanau-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages
Am 7. Februar 2022 trat Saß vor diesem Ausschuss auf. In der aus psychiatrischer Sicht zentralen Frage hatte man sich dort aber – ebenso faktenfrei wie politisch korrekt – längst festgelegt, wie Tat und Täter einzuordnen sind. Der Langtitel dieses Ausschusses verrät es: „Untersuchungsausschuss Hanau zu den rassistisch motivierten Morden“.
Die ARD-„Hessenschau“ berichtete über den Auftritt des Prof. Saß vor dem Ausschuss. Der sei sich sicher gewesen, dass der Täter die vergangenen 20 Jahre unter einer schweren paranoiden Schizophrenie gelitten habe. Seine „Weltsicht“ sei – hier muss wohl ergänzt werden: zur Tatzeit – „aufs Schwerste krankhaft verformt“ gewesen, und „in einem Prozess wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schuldfähig gewesen“. Die regionalen und überregionalen Medien muss diese Feststellung so überrascht haben, dass sie sich nicht in der Lage sahen, davon zu berichten.
Ende 2023 veröffentlichte der Hessische Landtag den gut 700 Seiten starken Abschlussbericht seines Untersuchungsausschusses. Sehr umfangreich und detailliert, teils auch recht kleinteilig und ohne dass wirklich wesentliche neue Erkenntnisse zutage gefördert wurden. Auch das Thema Prävention wird darin gewürdigt. Es steht unter dem kämpferischen, wenngleich doch etwas DDR-affin klingenden Motto: „Demokratieförderung stärken, Antirassismusarbeit ausbauen“.
Hier stellt sich allerdings messerscharf die Frage, wieso angesichts der furchtbaren Tat eines an paranoider Schizophrenie erkrankten Wahnsinnigen nun gerade Demokratie und Antirassismus zu fördern seien. Die Antwort versucht der Ausschuss in seiner abschließenden Bewertung zu geben, aber so ganz flüssig und überzeugend kann ihm das natürlich nicht gelingen: „Beginnend seit dem Jahr 2002 litt T. R. an einer schizophrenen Wahnerkrankung, die im Laufe der Zeit durch ein selbstgebildetes und selbstverstärktes rassistisches Weltbild mit erheblichen Verschwörungsphantasien und rassistischen Umvolkungsnarrativen ergänzt wurde.“ Selbstgebildet und selbstverstärkt meint hier ganz offensichtlich krankheitsunabhängig. Tobias R. hätte demnach also auch ohne seine Schizophrenie ein rassisches Weltbild mit allem Drum und Dran entwickelt.
Damit schließt sich dann der Kreis zu Seehofers bereits wenige Stunden nach der Tat geäußerten Einschätzung, dass wir es hier mit einer rassistisch motivierten Tat zu tun haben. Denn nur ein solches Tatmotiv eignet sich ja als Waffe im Kampf gegen Rechts. Und darauf kommt es doch letztlich an. Und nicht auf so etwas Altmodisches wie die Wahrheitsfindung.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich. Prof. Meins ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“
Der Beitrag erschien zuerst auf achgut.com
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