Bis 1989 wendeten sich immer mehr Ostdeutsche angewidert von „Aktueller Kamera“ und „Schwarzem Kanal“ ab. Belügen konnten sie sich selbst, dazu brauchten sie nicht die Leitmedien von KGB und MfS. Die Bundesrepublik war aggressiv, die bürgerlichen Freiheiten waren dekadent und unsozialistisch, die NATO war ein Angriffspakt. Zum Schutz der friedlichen DDR bedurfte es deshalb Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl, antifaschistischen Schutzwalls, Zuchthäuser, vorbereiteter Lager und das alles in Verbindung mit der täglichen Verdrehung historischer Abläufe. Denn wie sagte es schon der Ober-Guru und erster Jakobiner der kommunistischen Revolution, Wladimir Iljitsch Uljanow, „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!“. Und richtig friedlicher Kommunismus brauchte ganz viel gute Kontrolle. Das war klar wie Kloßbrühe.
Je länger die von Moskau in die sozialistischen Bruderländer geschüttete Propaganda anhielt, desto mehr Menschen wandten sich sozusagen reziprok vom System ab. 1989/90 wollten es dann selbst die meisten ursprünglich von der DDR überzeugten Leute nicht mehr, griffen ihr Stück Deutschland und nahmen es mit in die Einheit in der Freiheit und in die Sicherheit der NATO.
In Erkenntnis, dass die im Herbst 1989 gewonnen Freiheiten auf Dauer nur in der Deutschen Einheit abgesichert sein würden, fiel am 18. März 1990 im Volkskammerwahlkampf die deutliche Wahlentscheidung für die Parteien, die den Ostdeutschen die Einheit versprachen. Die „Allianz für Deutschland“ gewann dabei haushoch über die SPD, sie wollte den schnellen Weg über GG-Artikel 23 (Beitritt). Die SPD favorisierte die Fusion nach Verfassungsdiskussion gemäß GG-Artikel 146 und hatte damit keine Chance. Die meisten Ostdeutschen wollten kein drittes Experiment nach nationalem und realem Sozialismus, sie drückten aufs Tempo. Auch wollten sie nie wieder paramilitärische Verbände wie SA oder Kampfgruppen. Ins Heute übersetzt hieße das „Nie wieder Gestapo/SA oder KGB/MfS/Antifa“.
Am 19. August 1991 konnten sich die Ostdeutschen nach Friedlicher Revolution und Deutscher Einheit ein drittes Mal auf die Schultern klopfen. Wäre der Putsch in Moskau im Sinne der Putschisten erfolgreich gewesen und hätte es die Deutsche Einheit in der NATO noch nicht gegeben, in Ostberlin und in der gesamten reformierten DDR wären wieder die Panzer gerollt. So wie 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der CSSR, 1981 in Polen, 1989 in Peking auf dem „Platz des himmlischen Friedens“ und am „Blutsonntag“ des 13. Januar 1991 im litauischen Vilnius.
Die gesamte DDR-Opposition, auch die hinsichtlich der Einheit zögerliche, hätte die 1989 vorbereiteten Lager kennengelernt. In diesem Sinne hatten die einheitsfreudigen Ostdeutschen am 3. Oktober 1990 sogar die einheitsunwilligen DDR-Oppositionellen und viele andere Demonstranten von 89/90 mitgerettet.
Das vierte Mal war ostdeutsches Schulterklopfen am 31. August 1994 angesagt. An diesem Tag verließen die letzten russischen Besatzungssoldaten Deutschland. Seitdem rumort der russische Bär von Deutschland aus gesehen hinter dem Baltikum, hinter Polen, hinter der Slowakei, hinter Ungarn, hinter Bulgarien, hinter Rumänien. Lediglich die Ukrainer und Georgier haben Pech, sie sind nicht in der Sicherheit der NATO und werden auf Grund des Krieges in der Ostukraine und des eingefrorenen Konflikts in Ossetien auch nicht aufgenommen werden.
Das fünfte ostdeutsche Schulterklopfen stand 2014 auf dem Programm. Der Maidan war nichts anderes als der 9. Oktober 1989 von Leipzig. Mit dem Unterschied, 1989 war der Reformer Gorbatschow in Moskau im Amt und 2014 saß dort der KGB-Mann Putin, der seine eigenen Lehren aus der friedlichen Revolution der Ostdeutschen und der samtenen der anderen Ostblockuntertanen gezogen hatte. Für ihn hieß das „Nie wieder Leipzig 1989, deshalb keinen erfolgreichen Maidan!“. Für das Drehbuch lag genügend Zersetzungsmaterial in den KGB-Archiven, Provokateure wurden auch schnell gefunden und losging der Versuch der Maidan-Rückabwicklung. Allerdings hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht, die meisten Ukrainer ukrainischer und russischer Zunge stehen noch heute fest gegen Putins Griff.
Eine Bemerkung genehmigen wir uns an dieser Stelle: Dauerhaft erfolgreicher könnte die demokratische Ukraine sein, würde auf Sprachbenachteiligungen verzichtet. Sprachbenachteiligungen waren in der Menschheitsgeschichte ausnahmslos Vorstufen zu Schlimmerem.
Sicherheitsinteressen – von wem?
Die Sicherheitsinteressen der früher von der Sowjetunion besetzten Länder, die Unterdrückung nicht für Frieden halten, sondern in gesicherter Freiheit leben wollen, spielen konkret in der Berichterstattung vieler deutscher Medien und der Haltung erheblicher Teile der Bevölkerung keine Rolle. Angst, das kennzeichnende Merkmal der deutschen Psyche, ist auch hier wieder entscheidend. Wie vormals beim Nato-Doppelbeschluss gilt: Nur den russischen Bären nicht reizen, im Gegenteil, ihn mit Honig ohne Ende beglücken. Der russische Bär weiß das und nutzt die Schwäche des Westens, speziell Deutschlands, gezielt aus. Auch hier spielt nämlich Deutschland seine unrühmliche Rolle des Sonderlings.
Tatsache ist, dass im Dezember 1994 das Budapester Memorandum unterzeichnet wurde. „Im Memorandum verpflichteten sich Russland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien in drei getrennten Erklärungen jeweils gegenüber Kasachstan, Belarus und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder (Art. 1) zu achten.“
Bezüglich der Sicherheit der Ukraine gaben später China und Frankreich eigene Garantieerklärungen ab. Was allerdings fehlt, ist die Bedingung, dass die Ukraine weder der NATO noch der EU als reiner Wirtschaftsgemeinschaft beitreten darf. Anders ausgedrückt: Die territoriale Integrität der Ukraine darf auch dann nicht verletzt werden, wenn ein Beitritt entweder zur EU oder NATO oder beiden Institutionen erfolgt.
Objektiv falsch ist die gerade in Deutschland oft gehörte Behauptung, es habe Vereinbarungen, Zusicherungen oder Garantien im Rahmen der Verhandlungen über die deutsche Einheit gegeben, dass sich die westliche Allianz nicht über die Grenzen der ehemaligen DDR hinaus nach Osten ausdehnen würde, wenn Moskau einer Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO zustimmt.
„Das Narrativ des Kremls hat eine starke moralische Dimension. Dem Westen wird Wortbruch vorgeworfen.“ Nachdem Gorbatschow diese Legende anfangs mit
beförderte, stellte er später selbst klar: „Das Thema ,NATO-Expansion‘ wurde überhaupt nicht diskutiert, und es wurde in diesen Jahren [1989-1990] nicht aufgeworfen. Ich sage das in vollem Verantwortungsbewusstsein. Nicht ein einziges osteuropäisches Land hat diese Frage angesprochen, noch nicht einmal, nachdem der Warschauer Pakt 1991 aufgehört hatte zu existieren. Westliche Staats- und Regierungschefs haben sie auch nicht erhoben.“
Obgleich auch die Forschung keinerlei Hinweise auf irgendwelche Vereinbarungen oder Zusagen gefunden hat, hält sich die Kreml-Legende gerade im sich hochmoralisch wähnenden Deutschland hartnäckig.
Eine weitere, weit verbreitete Legende ist, dass der Kreml sich vor der Nato fürchtet, sich „eingekreist“ fühlt, „legitime“ Sicherheitsinteressen habe, denen andere Länder eben geopfert werden müssten.
In der Tat ist die angebliche Furcht vor der NATO genau die Propaganda der russischen Führung im eigenen Land. Auch hier fehlt der Legende jedoch die reale Tatsachengrundlage, weil bereits 2008 die NATO den Antrag auf Mitgliedschaft der Ukraine ablehnte.
Man kann darüber spekulieren, ob diese Entscheidung weise war. Wäre sie anders ausgefallen, gäbe es wahrscheinlich den heutigen Konflikt nicht. Dies lässt sich nicht mehr ändern, festzuhalten ist allerdings, dass die Annexion der Krim und die Besetzung der Ostukraine durch Russland nicht nur ein völkerrechtswidriger Einmarsch war, sondern auch durch angebliche Furcht vor der NATO gerade nicht begründet werden kann.
Die Kreml-Legenden, die in Deutschland auf sehr fruchtbaren Boden fallen, halten einer Überprüfung also nicht stand. Es ist zudem höchst überraschend, dass einerseits Putin für rational und gut informiert, andererseits aber für so dumm gehalten wird, den schwachen, überalterten und wohlstandsverwöhnten Westen für einen Aggressor zu halten. Tatsächlich dürfte es viel eher die realistische Einschätzung der westlichen Schwäche sein, die sein Handeln diktiert, nicht aber Furcht. Er erkennt, dass er die russische Macht und Einflusssphäre mit relativ geringem Risiko und Kosten erweitern kann.
Was Beobachter hierzulande oft übersehen, ist der Umstand, dass Russland nicht nur durch militärische Aggressionen gegen die Ukraine und eine Drohkulisse gegen Georgien aufgefallen ist. Vielmehr baut Russland seit mehr als 10 Jahren eine ähnliche Drohkulisse gegen die NATO-Staaten Estland, Lettland, Litauen und Polen auf. Putin hat in den letzten 20 Jahren kontinuierlich das Militär modernisiert, wobei sich die militärische Bedrohung im Ostseebereich gegen die baltischen Staaten, Polen, Finnland sowie Schweden und indirekt auch Deutschland richtet. Mit Truppenaufmärschen in der Größenordnung von 100.000 Mann z. B. im Rahmen der Übungen Zapad (2013, 2017, 2021) oder mit unprovozierten Aufmärschen wie jetzt gegen die Ukraine hat Russland demonstriert, dass es in der Lage ist, die baltischen Staaten nach relativ kurzer Vorbereitungszeit zu besetzen und gegen Rückeroberungsversuche der NATO zu verteidigen. Aus gutem Grund hat unser freiheitsliebender Nachbar Schweden in den letzten Jahren enorm aufgerüstet, ebenso wie Finnland, das nun sogar einen NATO-Beitritt erwägt.
Unsere Nachbarn sehen also die Gefahr und versuchen wie beim Thema Migration, ihre Grenzen zu schützen und zu verteidigen.
Das russische Militär versucht hingegen, Teile des Ostseeraums zu sperren. Auch Nord Stream 2 kann im Rahmen der hybriden Unterwasserkriegsführung, der „seabed warfare“, genutzt werden. Ursprünglich wurde darunter die Störung/Manipulation von Unterseekabeln verstanden, welche 99 % des globalen Datentransfers abwickeln. Mittlerweile geht es Russland um die umfängliche Nutzbarmachung des Meeresbodens und der Wassersäule als alternativen militärischen Operations-, Navigations- und Kommunikationsraum. Die dafür nötige Infrastruktur, wie passive Sonarnetzwerke oder Sensor-Transmitternetze zur Kommunikation, muss bereits vor einem Konflikt installiert sein. Über die strategisch höchst bedenkliche Abhängigkeit Deutschlands von Russlands Energielieferungen hinaus ist also Nord Stream 2 auch unter Sicherheitsaspekten äußerst fragwürdig.
Prof. Dr. Joachim Krause, der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel und Herausgeber der Zeitschrift für strategische Analysen, SIRIUS, schreibt:
„Was wir derzeit erleben, ist das, wovor Experten für Russland und für internationale Sicherheit – und vermutlich auch der Bundesnachrichtendienst – seit über einem Jahrzehnt warnen. Spätestens seit der Rede des russischen Präsidenten Wladimir vor der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007 ist klar, dass Russland die Konfrontation mit dem Westen sucht und einen revisionistischen Kurs eingeschlagen hat. Der russische Revisionismus zielt auf die Umkehrung jener politischen und militärstrategischen Veränderungen ab, die in den Jahren zwischen 1990 und 1992 zu einem deutlichen Verlust des imperialen Besitzstands Russlands geführt hatten.
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