Autor: Steffen Meltzer
Marco Wanderwitz (45, CDU) ist wieder Mitglied im neu gewählten Bundestag und nach wie vor „Ostbeauftragter“ der Bundesregierung.
Aber der Reihe nach: Die „besonderen Vorkommnisse“ begannen damit, dass Christian Hirte, der (ehemalige) Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Thomas Kemmerich per Twitter zu seiner Wahl zum Ministerpräsidenten von Thüringen gratulierte.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte daraufhin die Wahl aus dem fernen Südafrika als „unerträglich“ bezeichnet und gefordert, „auch das Ergebnis [müsse] wieder rückgängig gemacht werden“. Als Hirte im Gegensatz zu Digital-Staatsministerin Dorothee Bär (CSU) seinen Tweet nicht sofort löschte, wurde er nach einem Gespräch bei Bundeskanzlerin Angela Merkel gefeuert.
Daraufhin wurde der sächsische CDU-Abgeordnete Wanderwitz zum neuen Ostbeauftragten gekürt.
Der Elefant im Porzellanladen
Bereits vor der Ernennung war der Unionspolitiker immer wieder durch Empfehlungen der etwas anderen Art aufgefallen. So hatte er 2010 den Griechen mitten in der Finanzkrise vorgeschlagen: „Gebt her eure Inseln (…), wenn Griechenland seinen Verpflichtungen nicht nachkommen kann.“ Sollte Deutschland in eine schwere Finanzkrise schlittern, wäre Sylt sicherlich ein Sahnestück.
Dicke und Genussmenschen als Verursacher der knappen Kassen:
Die Berliner Zeitung schrieb am 24. Juli 2010 auf Seite 4: Wanderwitz fordere, dass sich ungesund ernährende Bürger stärker zur Finanzierung der Krankenkassen herangezogen werden müssten, da sie bewusst die Kosten der Kassen in die Höhe treiben würden. Deutschlands Vordenker wie Renate Künast hatten 2013 einen Veggie Day (fleischfreien Tag in der Betriebskantine) gefordert. Currywurst wurde bereits als der Grund allen Übels erkannt und verbannt.
Andere „Spezialisten“ wollen den unangepassten Mitbürgern gleich ganz an Leib und Leben. Wolfram Henn, Humangenetiker und Mitglied des Ethikrats der Bundesregierung, fordert nach einem Bericht die Verweigerer einer Corona-Impfung dazu auf, auch auf Notfallmaßnahmen im Krankheitsfall zu verzichten. Aber eigentlich müssen die Impfverweigerer im Einzelfall schon froh sein, wenn sie auf der Intensivstation nicht verprügelt werden: „Ganz ehrlich? Ich hätte ihm am liebsten eine reingehauen“, schreibt eine Krankenschwester aus Bayern. Neben all diesen Androhungen erscheint die Anhebung der Krankenkassenbeiträge für Corona-Ungeimpfte oder beleibte Menschen schon fast wie ein Fünfer im Lotto. Dabei sind Dicke gemütlich: „Lasst wohlbeleibte Männer um mich sein, mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen.“
Pressefreiheit und Ostdeutsche in oder eine Gefahr?
Zurück zu Herrn Wanderwitz: Seine besondere „sozialen Kompetenz“ bewies der kreative Chemnitzer im Jahr 2014 mit der Warnung vor dem Mindestlohn für Zeitungszusteller. Es wäre wirklich bedauerlich, wenn davon die Pressefreiheit Schaden nehmen würde! Man stelle sich einmal vor, es müssten dann alle aufgrund mangelnder eigener Recherchen von DPA und RND abschreiben. Unvorstellbar, oder?
Wanderwitz machte auch als Ostbeauftragter der Bundesregierung auf dem politischen Parkett keine Gefangenen:
Im Mai 2021 dozierte der Politiker in einem FAZ-Podcast über die Ostdeutschen: „Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“ Ein Teil der (ostdeutschen) Bevölkerung habe „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“. Nur ein geringer Teil der AfD-Wähler sei „potentiell rückholbar“, man könne darum nur „auf die nächste Generation“ hoffen.
Vielleicht wollte er damit nur in seiner etwas hölzernen Art sagen, die freiheitsbeschränkenden Corona-Maßnahmen der Bundesregierung empfänden viele Ostdeutsche als ein Déjà-vu zu dem Staat, den sie 1989/90 abgeschafft haben? Einfach ausgedrückt: Bekanntermaßen gleicht das Unterbewusstsein die Vergangenheit ununterbrochen mit der Gegenwart ab. Heraus kommt das, was wir „Wahrnehmung“ nennen. Der Mensch ist deshalb stets ein sehr individuelles Subjekt und kein unmündiges Objekt für dominante Dritte jeglicher Couleur, die eine ganz bestimmte politische Agenda verfolgen. Anstatt einer Verpanzerung der eigenen Gefühle und Gedanken strebt der Mensch natürlicherweise nach einer inneren und äußeren Freiheit, wenn man ihm das nicht ausgetrieben hat.
Offensichtlich stört sich Wanderwitz wie einige seiner Kollegen an historischen Vergleichen vieler Ostdeutscher mit der Gegenwart und brandmarkt deshalb die besorgten Bürger, die sich an ungute Zeiten erinnert fühlen.
Einen schwereren Rucksack konnte man seinen ostdeutschen CDU-Kollegen, die sich um ein Mandat im Bundestag bemühen, kaum noch mitgeben. Die Empörung bei vielen Bewohnern der „neuen“ Bundesländer schlug entsprechend hohe und nachhaltige Wellen. Es erfordert schon ein gehöriges Maß an Empathielosigkeit, um über seine eigene Wählerschaft derartig lebensfremd und irreparabel den Stab zu brechen. Gebrochen sind dann allerdings alle Dämme, und zwar bei der Bundestagswahl für die CDU. Entsprechend groß waren der plötzliche Aufschrei und die Empörung. Natürlich ist Wanderwitz nicht der Hauptverantwortliche für die Niederlage der CDU. Die Partei hat ein Problem mit der innerparteilichen Demokratie. Das bekam zum Beispiel Friedrich Merz bei seinen Kandidaturen zum Landesvorsitzenden zu spüren, als er zweimal am Establishment scheiterte und nicht an der CDU-Basis. Der Tau von Angela Merkel wird sich noch viele Jahre über die Union legen, wenn man die Zeichen der Zeit nicht endlich verstanden hat.
Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg keinen
Auch Sachsens Ministerpräsident erinnerte sich nach dem historischen Wahleinbruch gegenüber der Leipziger Volkszeitung daran, Wanderwitz habe Menschen in Ostdeutschland als diktatursozialisiert bezeichnet. Das sei nicht hilfreich gewesen.
Der erfolglose CDU-Bundestagskandidat Florian Oest aus Görlitz berichtete, Wanderwitz sei „eine schwere Belastung für den Wahlkampf“ gewesen. Der gescheiterte Abgeordnete erzielte in seinem Wahlkreis 26,1 Prozent der Erststimmen, damit ein Plus von 7,8 Prozent gegenüber den Zweitstimmen für die CDU. Trotzdem war er gegen den Gewinner Tino Chrupalla (AfD), der 35,8 Prozent auf sich vereinigte, chancenlos. Ob Letzterer einen Dankesbrief nach Chemnitz geschrieben hat, ist mir nicht bekannt, wäre jedoch durchaus überlegenswert.
Aber auch Wanderwitz selbst scheiterte in seinem Wahlkreis. Im Chemnitzer Umland/Erzgebirge II verlor der unverstandene Ostbeauftragte krachend gegen den bis dahin unbekannten Mike Moncsek (AfD).
Währenddessen viele seiner ostdeutschen CDU-Abgeordneten scheiterten, hielt der Ostbeauftragte der Bundesregierung wieder Einzug in den Bundestag.
Für den Fall seiner Niederlage im eigenen Wahlkreis hatte er sich in seiner Partei mit dem sächsischen Listenplatz Nummer 1 absichern lassen. Immerhin wurde er bei der Konstituierung der Landesgruppe der CDU im Bundestag nicht wieder zum Chef gewählt. Sein Nachfolger Carsten Körber gibt an der verlorenen Wahl vor allem Armin Laschet die Schuld. Wanderwitz wird dagegen in Schutz genommen. „In der Sache sei es richtig, was Wanderwitz gesagt habe: ‚Vom Ton her kann man geteilter Meinung sein‘.“ Mit anderen Worten, man sollte besser nicht alles sagen, was man richtigerweise denkt. Vor allem auf den Zeitpunkt kommt es an. Die Lernfähigkeit der sächsischen Union nur eine Schwalbe für einen Sommer?
Operation am offenen Herzen notwendig
Nicht ganz, denn andere Akteure gehen an das Corpus Delicti mit dem Skalpell heran. Der Freiberger Steve Johannes Ittershagen (45), bis 2019 im Fraktionsvorstand der CDU-Landtagsfraktion, schreibt auf Facebook:
Herr Wanderwitz ist in meinen Augen in mehrfacher Hinsicht krachend gescheitert. Als Spitzenkandidat der sächsischen Union und (und dies wiegt ungleich schwerer) als Ostbeauftragter der Bundesregierung.
Von seinen Äußerungen fühlten sich derart viele Ostdeutsche diskreditiert, dass man Herrn Wanderwitz die Kompetenz hinsichtlich besonderer Kenntnisse zum Osten und der Gefühlslage ganz vieler hier lebender Bürger komplett absprechen muss. Das ist jedoch symptomatisch für die gesamte noch amtierende Bundesregierung.
Vielleicht wäre es gut, wenn auch er eine Pause einlegt und statt dem Bundestag anzugehören den Weg in die arbeitende Bevölkerung vorzieht. Vielleicht erhellt sich dann sein Verständnis über die Belange der Ostdeutschen.
Natürlich haben diese Deutschen aufgrund ihrer Lebensbiografie in zwei Gesellschaftssystemen eine spezielle Radarantenne dafür, wenn etwas aus dem gesellschaftlichen Ruder der Normalität läuft. Sie sind verantwortlich für die einzige erfolgreiche Revolution auf deutschem Boden. Bevormundungen und hochnäsige Ausgrenzungen aus dem politischen Diskurs kommen dabei gar nicht gut an.
Wenn sich die CDU und die anderen Altparteien den Sorgen, Nöten und Meinungen dieser Menschen verschließen, wird aus Protest die AfD gewählt. Überraschung! Eine Partei, die durch Merkels Politik entstanden und gewachsen ist. Sie erhält bis heute ihre kostenlose Werbung auch durch CDU-Politiker wie Marco Wanderwitz.
Ob es eines sogenannten Ostbeauftragten bedarf, ist für mich fraglich. Ein vereinigtes Land muss nach 30 Jahren endlich von der dauerberieselten Ost-/Westtrennung wegkommen, will man nicht ständig separierend die eigenen Bürger gegeneinander aufbringen. Auch im Westen, Norden oder Süden gibt es Regionen, die Hilfe nötig haben. Der symbolträchtige „Ostbeauftragte“ – auch als Spielzeug persönlicher Eitelkeiten – muss deshalb ein Ende haben.
Hinterlassen Sie einen Kommentar