Autor: Alexander Freitag
In den kommenden Wochen und Monaten werden in diesem Land nicht nur viele Träume, sondern auch viele Lebensentwürfe platzen. Große Teile des Mittelstandes werden alleine auf Grund der unbezahlbar werdenden Energiepreise übers Geländer kippen, relativ dazu ein ähnlich großer Teil der Mittelschicht. Das wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückgrat des Landes wird ganz einfach brechen, wie das eben so ist, wenn über eine lange Zeit große Kräfte auf ein Rückgrat einwirken. Die derzeit demoskopisch eingefangene Mehrheitsstimmung, die -wie etwa im aktuellen „Deutschlandtrend“ der ARD- eine hohe Leichtmatrosigkeit in den noch wohlhabenden westlichen Mehrheitsmilieus aufzeigt, ist real. Das bekommt jeder mit, der aufmerksam seine Umgebung beobachtet. „Ist ja nur der Winter!“, ist eine häufige Aussage. „Wir legen auch etwas zurück.“, eine weitere. Und, ganz häufig: „Die in Berlin werden sich schon etwas einfallen lassen!“. Das wird sich rächen.
Mentale Herausforderung & Psychotrauma
Die sich nun in rascher Dynamik entwickelnde ökonomische Situation für die Deutschen ist, neben der finanziellen Herausforderung, vor allem auch eine mentale. Der kommende Winter, speziell die Phase ab Ende Dezember, Anfang Januar, wird eine Reihe von Schocks mit sich bringen, auf die dieses Land weder infrastrukturell noch mental vorbereitet ist. Aus psychologischer Sicht werden die Erfahrungen der Deutschen traumatisch sein, die psychotraumatologischen Auswirkungen werden gerade bei den oben schon beschriebenen „Leichtmatrosen“ erheblich sein: Land und Gesellschaft stehen am Vorabend eines Epochenbruchs.
Eigene Resilienz auf dem Prüfstand
Die Situation wird, wie jede Ausnahmesituation, eine enorme Belastung für viele darstellen. So wie ein Krieg ist eine Energiemangellage in Kombination mit einer hyperinflationär werdenden Geldentwertung eine systemische Lage – es sind praktisch alle betroffen. Lediglich der sozio-ökonomische Ist-Status vor Einsetzen der Ausnahmesituation macht einen Unterschied: Denjenigen, die auf höheren sozio-ökonomischen Stufen stehen, wird schlicht ein wenig mehr Zeit bleiben. Verschont bleiben indessen auch sie nicht.
Wie umgehen mit einer solchen Situation? Die Bedrohung der eigenen Existenz ist eines der schwersten Traumaereignisse, die wir aus psychologischer Sicht kennen. Wer da nicht von kerniger Robustheit ist, wird sich schwer tun. Insbesondere, da die Lage langfristig belastend sein wird. Da macht es Sinn, nicht nur die eigenen finanziellen Aspekte zu analysieren, sondern auch die Frage, wie man selbst mit hochbelastenden Stresssituationen umgeht. Vor allem, wenn sie längerfristig einwirken.
Was ist eine extreme Stresslage?
Ohne jetzt hier ein (neuro-)physiologisches Proseminar abhalten zu wollen, folglich in gebotener Kürze:
– Kurzfristige, akute Hochstresslagen sind Lagen, die unser Organismus gut abfangen und kompensieren kann – es gibt eine kurzfristige Flutung mit Stressstoffwechsel, der uns Kampf- und Fluchtbereit macht. Ist die bedrohliche Situation bereinigt, beruhigt sich das System schnell wieder.
– Das ändert sich, sobald die Stresslage subakut, und folglich längerfristig wird: Die Flutung mit Stressstoffwechsel kann in vollem Umfang gar nicht aufrecht erhalten werden, der Organismus hat solche Reserven nicht. Also schaltet er in eine Art Daueralarmbereitschaft: Der Stresstoffwechsel wird reduziert, wirkt aber dafür dauerhaft auf Organismus und Gehirn ein. Dafür sind wir nicht gemacht. Die Folgen sind fatal: Im Zuge dieses Anpassungssyndroms (dauerhafter Stresstoffwechsel ohne Kompensation = Anpassung) schleift der Körper seine Ressourcen. Schlafstörungen, Albträume, Endlosgrübeln und Nichtrunterschaltenkönnen führen schon nach wenigen Wochen zu Erschöpfung und Depressivität. Kann nun immer noch nicht kompensiert werden, weil etwa die Stresslage unverändert einwirkt, ist der viel zitierte Burnout unausweichlich: Mentale und körperliche Kräfte brechen, bei dem einen früher, bei dem anderen später, regelrecht ein.
In diesen Kreislauf werden in den kommenden Wochen und Monaten sehr viele Deutsche, die bisher nur Wohlstand, Aufstieg und Sicherheit gewohnt sind, hineingeraten. Für nicht wenige mit traumatischen Folgen. Die gute Nachricht: Dem lässt sich individuell vorbeugen.
Umgang mit extremen Stresslagen & Traumasituationen
Ist die „Stunde Null“, also das Desaster, erst einmal eingetreten, ist es Essig mit Vorbereitung. Die „Stunde Eins“ beginnt im unvorbereiteten Falle traumavertiefend, weil es keine vorgehaltenen Reserven oder mental geübte bzw. vorhandene Bewältigungsmechanismen gibt, gefühlte oder erlebte Wehrlosigkeit macht sich breit.
Mentaltechniken: Um die „Stunde Eins“ nach der „Stunde Null“ gut bewältigen zu können, muss zunächst die „Stunde Null“ gemeistert werden: Wichtig ist hier, auf die (1) Möglichkeit und den (2) potenziellen Verlauf eines Desasters vorbereitet zu sein. Hier helfen Mentaltechniken, die z.B. erfolgreiche Sportler nutzen: Das potenzielle Ereignis wird wie in einem vorauslaufenden Film im Kopf durchgespielt. Konkret. Wieder und wieder. Hier nicht um sich zu ängstigen (insofern sind bestimmte Mentaltechniken nicht für jeden geeignet), sondern um Reaktionsmechanismen im gedanklichen Voraus zu üben.
Freeze vermeiden: Wirkt Stress(stoffwechsel) zu lange und ohne körperliche Aktivität ein, reagiert der Körper mit einem „Freeze“ – das kann bis hin zu einer völligen Blockade gehen, in der Medizin „Katatonie“ genannt. Da es schwer ist, da wieder rauszukommen, muss das auf jeden Fall vermieden werden. Stress(stoffwechsel) braucht körperliche Aktivität. So albern das jetzt auch klingt: Der kurze, aber intensive Spaziergang (ca. 20-30 Minuten) hilft, aus dem Adrenalintunnel herauszukommen, den Freeze zu vermeiden. Werden Sie auch ansonsten aktiv: Sprechen Sie Nachbarn an, organisieren Sie aktiv Gemeinschaft: In Desaster-Situationen müssen viele Dinge selbst organisiert werden. Aktiv zu werden vermittelt das wichtige Selbstgefühl von Kontrolle – es ist also eine Win-Win-Situation. Geübt wird so etwas nicht, wir leben ja im besten und schönsten Deutschland aller Zeiten, wo man so etwas nicht braucht. Und das ändert sich eben jetzt.
Rechnen Sie mit Irren – gerade die Leichtmatrosen werden erfahrungsgemäß sehr anfällig für Hysterien und Zusammenbrüche sein. Rechnen Sie mit hässlichen Bildern – nicht, um sich zu ängstigen, sondern auch auf das Ungewöhnliche zumindest generell mental vorbereitet zu sein. Und wenn Sie merken, dass Sie akut aus der Spur gehen, hilft ein alter Psychotraumatologen-Trick: Rechnen Sie von der Zahl 2000 in Siebener-Schritten zurück – das aktiviert die rationalen Strukturen im Gehirn, was wiederum die ausufernde neurologische Panikreaktion reduziert.
Den Mut nicht verlieren: Salutogenese
Auf jedes Gestern folgt ein Heute. Auf jedes Heute folgt ein Morgen. Resiliente Menschen, also Menschen mit hoher Widerstandskraft, leben diese banale Weisheit vollkommen selbstverständlich. Das klingt leicht gesagt. Ist aber eine vor allem mentale, also psychologische Herausforderung. Wer sie beherrscht (oder erlernt), hat eine unermesslich wichtige Ressource in seinem Leben. Nicht im Sinne eines leichtmatrosigen „Weiter so“, sondern im Sinne einer mental substanziellen Kraft, auch stark belastende Situationen zu überstehen, ohne daran zu zerbrechen. Salutogenese (Salut = dem Leben zugewandt), die Fähigkeit und Eigenschaft, ein Leben zu führen, das mental und physisch gesund erhält, lautet nicht nur das Stichwort, sondern das Konzept. Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir das hier vertiefen.
Bis hierhin soll wichtig sein: Vorbereitet zu sein ist die Kernressource des erfolgreichen Umgangs mit akuten Desaster-Situationen oder subakut-längerfristigen Belastungen. Vorbereitung, allgemein auch Training genannt, spart im Eintrittsfalle einer Situation wichtige kognitive und körperliche Ressourcen, erspart den extrem schädlichen Freeze und verschafft Zeit. Nie war es wichtiger sich damit auseinanderzusetzen als im September-Deutschland des Jahres 2022.
Zum Autor: Alexander Freitag ist Wirtschaftspsychologe und Lehrbeauftragter für Präklinische Notfallmedizin & Psychiatrie. Er ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“.
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