Die behauptete Zunahme der „Hitzetoten“ stützt sich bei näherem Hinsehen nicht nur auf dürftige Quellen. Notwendige Einordnungen werden nicht vorgenommen, zu kurze Zeiträume betrachtet, Kältetote ignoriert.
Stellt man dem Internet diese Frage, wird sie – Überraschung – vehement bejaht, und es wird gleich auf vier Belege bzw. Medienbeiträge verwiesen, die sich aber allesamt auf dieselbe Quelle beziehen: eine 2021 in der medizinischen Fachzeitschrift Lancet publizierte Studie. Skeptisch macht bei diesen Belegen für eine Zunahme der „Hitzetoten“ der ebenso willkürlich erscheinende wie auch recht kurz bemessene Vergleichszeitraum von 2000 bis 2004 mit 2014 bis 2018.
Vielleicht hilft bei der Beantwortung der hier interessierenden Frage ausnahmsweise mal eine jüngst im Deutschen Ärzteblatt erschienene Studie mit dem Titel: „Hitzebedingte Mortalität in Deutschland zwischen 1992 und 2021“. Der Titel hält leider nicht ganz, was er verspricht, denn im Wesentlichen beschränkt sich die Analyse auf den sehr übersichtlichen Zeitraum von 2018 bis 2020. Warum? Weil in diesen drei Jahren recht hohe Sommertemperaturen herrschten und sich deshalb, besonders 2018, auf der Grundlage von Schätzungen, vergleichsweise viele „Hitzetote“ ergaben.
Ein Datensatz über einen Zeitraum von 30 Jahren wäre eigentlich doch eine zumindest halbwegs solide Grundlage, um einen zeitlichen Trend zu berechnen: Hat die hitzebedingte Mortalität nun zugenommen, abgenommen oder ist sie gleichgeblieben? Nicht nur dass die Autoren diese sich aufdrängende Frage unbeantwortet lassen, sie präsentieren dem Leser auch bloß die Daten der zehn Jahre von 2012 bis 2021 – mit den besonders eindrucksvollen Zahlen für den Zeitraum von 2018 bis 2020. Die vorangegangenen 20 Jahre von 1992 bis 2011 muss sich der besonders interessierte Leser aus einer im Internet „versteckten“ Tabelle dagegen selbst besorgen.
Keine Zunahme erkennbar
Es genügt dann allerdings ein Blick, um den begründeten Verdacht zu entwickeln, dass zwischen den ersten 15 Jahren von 1992 bis 2006 und den zweiten von 2007 bis 2021 keine Zunahme der hitzebedingten Todesfälle erkennbar ist. Schreitet man zum Äußersten und berechnet jeweils das arithmetische Mittel, ergeben sich für die ersten 15 Jahre 2.773 hitzebedingte Sterbefälle pro Jahr, für die zweiten 15 Jahre 2.780, also praktisch ein identisches Ergebnis. Zudem gab es in beiden Zeiträumen jeweils nur sechs Jahre, in denen es überhaupt zu einer statistisch signifikanten hitzebedingten Übersterblichkeit kam. Mit solchen Ergebnissen möchte das Ärzteblatt die Leser aber nicht behelligen, passen sie doch nicht so recht ins Narrativ der „Klimakatastrophe“.
Auch kommen die Autoren angesichts einer recht eindeutigen Grafik nicht umhin, feststellen zu müssen, „dass im Allgemeinen dieselbe Wochenmitteltemperatur in der Dekade 2012 bis 2021 weniger stark auf die Mortalität einwirkte als etwa in der Dekade 1992 bis 2001. Dies kann als Hinweis auf eine gewisse Anpassung der Bevölkerung an wiederkehrende Hitzeperioden interpretiert werden.“ Was im Übrigen nichts Neues ist, sondern durch entsprechende Studien, z.B. für die USA oder auch Spanien, längst gut belegt ist.
Angesichts ihrer – im Vergleich zu der eingangs erwähnten Lancet-Studie – um schlappe 130 Prozent (8.700 vs 20.000) niedrigeren „Hitzetoten“-Schätzung für das Jahr 2018 weisen die Ärzteblatt-Autoren kollegial auf eine „vereinfachte“ Methodik bei Lancet hin, die zu solchen Differenzen führen könne. Ok, das kann mal passieren. Aber bestimmt fallen Lancet-Schätzungen für andere Länder dafür entsprechend niedriger aus, wie uns jedenfalls die Ärzteblatt-Autoren versichern.
Auch in der hier interessierenden Studie bleibt ein ganz wesentlicher Aspekt unberücksichtigt: der vor allem in älteren Studien mitgeteilte Befund einer einige Tage bis wenige Wochen nach „Hitzewellen“ typischerweise auftretenden kompensatorischen Untersterblichkeit. Das wiederum liegt daran, dass in vielen oder gar den meisten Fällen der „Hitzetod“ bereits todgeweihte, oder wie der Mediziner sagt, moribunde, auch kognitiv meist stark eingeschränkte, hochbetagte Menschen trifft.
Die Kältetoten im Winter
Autoren einer wissenschaftlichen Publikation sind grundsätzlich gehalten, den Stellenwert ihrer Ergebnisse kritisch in den bisherigen Forschungsstand einzuordnen. Dazu gehört bei diesem Thema nach meinem Empfinden zwingend auch ein wenigstens kurzer Blick auf die andere Gruppe der Temperaturopfer – die „Kältetoten“ bzw. die kältebedingte Übersterblichkeit –, der hier nachgeholt werden soll: Eine im Auftrag der WHO erfolgte Analyse schätzt für Deutschland die Zahl der kältebedingten Übersterblichkeit im Winter jährlich auf durchschnittlich gut 32.000, davon etwa 9.500 infolge von zu niedrigen Innentemperaturen. Damit führen (zu) kalte Temperaturen insgesamt fast zwölfmal häufiger zum Tod als zu warme. Allein durch ungenügende Raumtemperaturen versterben jährlich im Mittel mehr Menschen als temperaturbedingt im Hitzesommer 2018.
Während die Risikogruppe in Bezug auf ein „hitzebedingtes“ vorzeitiges Ableben vorzugsweise die Hochbetagten sind, gilt als Risikogruppe für einen vorzeitigen kältebedingten Tod die Altersgruppe ab 65 Jahren – sofern zusätzlich relevante Vorerkrankungen bestehen. Gemeint sind damit vor allem Bluthochdruck, chronisch obstruktive Lungenerkrankung und koronare Herzkrankheit. Hauptsächlich für diese in unserer alternden Gesellschaft nicht kleine Risikogruppe wird die als gerade noch ausreichend angesehene Raumtemperatur von mindestens 18 Grad – auch mangels einschlägiger Studien – nicht mehr als überwiegend gesichert angesehen.
Aber das alles ist weder für den Medizinbetrieb noch die Medien ein ernsthaftes Thema. Angesichts der infolge eines Energiemangels drohenden kältebedingten Sterbewelle im kommenden Winter gefällt man sich darin – offenkundig unbelastet von jeglichem speziellen Wissen –, launige Tipps zu geben. Stellvertretend sei hier der Weser-Kurier angeführt, der den entsprechenden Artikel aufmacht mit: „Frieren bei Gasmangel? Wieso kühlere Wohnungen gesünder sind. Wegen des Konfliktes mit Russland wird über niedrigere Mindesttemperaturen diskutiert. Aus medizinischer Sicht kein Problem – im Gegenteil.“
Hier geben Mediziner wertvolle Tipps, wie: „einfach mal um den Block zu laufen, dann kommt uns die Wohnung gleich viel wärmer vor“, oder: „Wer seiner Gesundheit etwas Gutes tun möchte, kann auch vor dem Fernseher Liegestütz machen.“ Nicht zu vergessen natürlich der Klimaschutz, denn „mit jedem Grad, um das ich die Raumtemperatur senke, spare ich sechs Prozent Energie.“ So sind das Leiden und vielleicht gar der Tod wenigstens nicht umsonst, sondern dienen einem höheren Zweck.
Der Beitrag erschien zuerst auf achgut.com
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich. Prof. Meins ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“
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