Vor gut zwei Wochen jährte sich das Attentat von Hanau zum zweiten Mal, und zwei Monate zuvor hatte der Generalbundesanwalt (GBA) die Einstellung der Ermittlungen bekanntgegeben: Obwohl rund 300 Hinweisen und Spuren nachgegangen, über 400 Zeugen vernommen und mehrere hundert Asservate untersucht worden seien, „haben sich keine Hinweise darauf ergeben, dass andere Personen in die Anschlagspläne von Tobias R. eingeweiht gewesen sein könnten“. Das von bestimmten Kreisen immer wieder vermutete rechtsextreme Netzwerk hinter dem Täter hat es also nicht gegeben. Für kritische und fachkundige Beobachter war das allerdings schon kurz nach dem Attentat klar: Wahn isoliert, vor allem, wenn er Bestandteil einer langjährigen Schizophrenie ist. Diese Gruppe von psychisch Kranken ist schlicht nicht netzwerkfähig.
Die Einschätzung des Sachverständigen wird verschwiegen
Damit drängt sich die Frage auf, was denn der GBA abschließend zur psychischen Verfassung des Täters anzubieten hat. Immerhin hatte man ja einem bekannten und renommierten psychiatrischen Sachverständigen, Prof. Henning Saß, einen Gutachtenauftrag in dieser Sache erteilt. Doch zu dessen Ergebnissen findet sich nicht ein einziges Wort in der abschließenden Erklärung des GBA – erstaunlich, oder auch nicht. Lediglich einmal geht es in der GBA-Erklärung um die psychische Situation des Täters. Bei ihm hätten – nicht näher beschriebene – „psychische Beeinträchtigungen“ bestanden. So kann man natürlich auch eine schwere, ebenso chronifizierte wie hochakute paranoid-halluzinatorische Schizophrenie bezeichnen. In diesem euphemistischen Tonfall geht es weiter, wenn festgestellt wird, dass Tobias R. ungeachtet dieser psychischen Beeinträchtigungen ein „selbstbestimmtes Leben“ geführt habe. Damit will der GBA offensichtlich die Botschaft vermitteln, Tobias R. habe auch Planung, Entschluss und Durchführung seiner grausamen Tat „selbst“ bestimmt.
Nun hat der Täter zwar ein weitgehend selbstständiges Leben geführt, war also in Bezug auf verschiedene Aktivitäten des täglichen Lebens – z.B. Ankleiden, Nahrungsaufnahme, Toilettengang oder auch Autofahren und Einkaufen – nicht auf Unterstützung angewiesen. Die Fähigkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ist aber etwas komplexer und an anspruchsvollere Voraussetzungen geknüpft. Ein solches Leben ist nicht oder allenfalls ansatzweise möglich, wenn, wie beim schizophren erkrankten Täter, das Denken nicht mehr richtig funktioniert, weil es krankheitsbedingt hochgradig eingeengt und teils zerfahren ist, dazu inhaltlich bestimmt wird von einem schweren Verfolgungs-, Beziehungs- und Größenwahn sowie zumindest zuletzt auch von akustischen Halluzinationen in Form von Stimmenhören – bei völlig fehlendem Krankheitsbewusstsein. Unter Selbstbestimmung wird im Kern gemeinhin die Möglichkeit und Fähigkeit verstanden, gemäß dem eigenen – nicht aber einem krankhaft stark veränderten – Willen zu entscheiden und zu handeln. Es ist schon äußerst bemerkenswert, mit welcher Ignoranz und Nonchalance der GBA die beim Täter tatsächlich vorliegende psychische Störung behandelt – obwohl der von ihm beauftragte psychiatrische Sachverständige zu einer dezidiert anderen Beurteilung kommt.
Eigentlich eine klare Angelegenheit
Es bedarf keinesfalls eines besonders qualifizierten Psychiaters, um bei Tobias R. die Diagnose einer (paranoiden) Schizophrenie zu stellen. Diese Diagnose ist vielmehr – samt den konkreten Symptomen – recht problemlos aus den beiden „Manifesten“ des Täters ableitbar. Etwas – aber auch nur etwas – diffiziler ist dagegen die Frage nach der strafrechtlichen Schuldfähigkeit. Diese Frage ist letztlich die entscheidende, die Prof. Saß in seinem Gutachten zu beantworten hatte. Dieses Gutachten ist bis heute nicht veröffentlicht, aber Ende letzten Jahres an den Spiegel durchgestochen worden, ob vollständig oder nicht, sei dahingestellt. Jedenfalls findet sich in diesem „Spiegel“-Beitrag zum Thema Schuldfähigkeit nichts – im Übrigen auch nicht in dem ausführlichen und resümierenden vom 19. Februar dieses Jahres, obwohl zwischenzeitlich etwas Wesentliches passiert war.
Denn am 7. Februar trat Prof. Saß vor dem Hanau-Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtages auf. Dieses Gremium scheint sich überwiegend an Nebenaspekten abzuarbeiten. In der zentralen Frage hingegen hat man sich längst festgelegt, was besonders deutlich wird am Langtitel dieses Ausschusses. Wann immer es der zur Verfügung stehende Platz zulässt, heißt es nämlich: „Untersuchungsausschuss Hanau zu den rassistisch motivierten Morden“. Daran soll und darf also nicht mehr gerüttelt werden. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Frage des Tatmotivs werden damit von vornherein so gut wie ausgeschlossen. Sollten dennoch solche präsentiert werden, droht ihnen folglich das Schicksal, ignoriert, wie etwa vom „Spiegel“, oder „passend gemacht“ zu werden.
Schuldunfähigkeit des Täters von den meisten Medien verschwiegen
Leider steht kein Wortprotokoll dieser Ausschusssitzung zur Verfügung. Der Autor dieser Zeilen ist deshalb auf Medienberichte angewiesen, in unseren Zeiten bekanntlich nicht immer die zuverlässigsten Quellen. Verhalten positiv hebt sich allein die Berichterstattung des Hessischen Rundfunks durch die Hessenschau ab, die Prof. Saß zwischendurch auch mal im O-Ton zu Wort kommen lässt und zudem noch die Kunst des indirekten Zitierens beherrscht. Bei „Zeit Online“ dagegen, um nur ein Beispiel zu nennen, ist es für den Leser oft schlicht unmöglich, auseinanderzuhalten, ob es sich nun um ein Statement von Prof. Saß oder die Meinung bzw. Interpretation des Schreibers handelt.
Gemäß der „Hessenschau“ sei sich Prof. Saß sicher, dass der Täter die vergangenen 20 Jahre unter einer schweren paranoiden Schizophrenie gelitten habe. Seine „Weltsicht“ sei – man merke sich diesen Terminus – „aufs Schwerste krankhaft verformt“ gewesen, und „in einem Prozess wäre er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schuldfähig gewesen“. Für Achse-Leser meiner Berichte zu Hanau ist das nicht neu. Aber dass jetzt der „offizielle“ psychiatrische Sachverständige ebenfalls eine Schuldunfähigkeit feststellt und damit das Narrativ eines zutiefst aus rassistischen – d.h. nicht krankheitsbedingten – Motiven handelnden Täters öffentlich widerlegt, kommt doch ein wenig überraschend. Offenbar nicht nur für den Autor dieser Zeilen, sondern auch für andere Medienschaffende. Die hat das allerdings so umgehauen, dass sie darüber völlig vergaßen, diese Feststellung einer Schuldunfähigkeit durch Prof. Saß an ihre Leser weiterzugeben. Im Klartext: Abgesehen von der „Hessenschau“ wird das von der überwiegend regionalen Berichterstattung schlicht verschwiegen. Die FAZ vom 7. Februar (20:05) fällt hier als seriöse Quelle aus, weil sie dem Prof. Saß eine fachlich völlig unsinnige, bloß küchenpsychologisch fundierte Behauptung untergejubelt haben dürfte, dass nämlich die „krankhafte Form einer wahnhaften Weltsicht“ sich beim Täter in einer schwierigen Kindheit herausgebildet habe.
Das Phantom einer krankheitsunabhängigen Gesinnung
Wenn der GBA-Sachverständige von einer aufs Schwerste krankhaft verformten Weltsicht spricht, heißt das übersetzt: Bei einer Person, die seit 20 Jahren, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, an einer schweren paranoiden Schizophrenie mit Wahnthemen leidet, die in abstruser, eben wahnhaft „verformter“ Weise u.a. um rassistische, völkische oder auch rechtsextreme Inhalte kreisen, ist es ebenso aussichtslos wie abwegig, erkennen zu wollen, ob Teile davon auch eine krankheitsunabhängige Gesinnung widerspiegeln. Grundsätzlich kann das zwar nicht vollständig ausgeschlossen werden, aber bei einer 20-jährigen Krankheitsdauer auch nur halbwegs schlüssig belegen zu wollen, dass ein bestimmter Teil der fremdenfeindlich, rassistisch oder auch rechtsextrem anmutenden Gedanken sich krankheitsunabhängig entwickelt haben und somit eine entsprechende Gesinnung markieren, ist schlicht abwegig.
Wenn man der Berichterstattung Glauben schenken darf, gab es im Ausschuss keinerlei Diskussion mit dem Sachverständigen darüber, was denn nun die Feststellung einer Schuldunfähigkeit im Falle von Tobias R. in Bezug auf das Tatmotiv im Kern bedeute. Nämlich: Kann das Narrativ eines rassistisch motivierten Mörders tatsächlich weiterhin Gültigkeit beanspruchen? Klare Antwort: nein, selbstverständlich nicht. Haben die Ausschussmitglieder und die berichtenden Medien diese Erkenntnis akzeptiert? Die Antwort lautet wiederum: nein, leider nicht. Stattdessen wurde sofort und mit aller Kraft nach dem Notausgang gesucht, der es erlaubt, weiterhin die Legende oder das Narrativ vom rassistisch motivierten Massenmörder zu pflegen und dabei die „rechten“ Biotope in Familie und Gesellschaft nicht zu übersehen, die einen solchen Unhold hervorgebracht hätten.
Ein sehr neutraler Sachverständiger
Das Fehlen eines Wortprotokolls der Ausschusssitzung wurde bereits beklagt. Wenn im Folgenden Kritik an Prof. Saß formuliert wird, geschieht das also unter Vorbehalt. Denn was er wie genau gesagt hat, erschließt sich aus den Medienberichten nur sehr eingeschränkt. Dennoch entsteht insgesamt der Eindruck, dass es nicht sein besonderes Anliegen war, das bereits wenige Stunden nach der Tat verkündete und seitdem nahezu unangefochten herrschende Narrativ eines rassistisch motivierten Täters zu korrigieren oder auch zu dekonstruieren. Angesichts der bei den allermeisten Ausschussmitgliedern – und Medienvertretern – extrem fixierten Überzeugungen zum Täter und dessen Motiv wäre er ansonsten wohl insgesamt pädagogischer vorgegangen und hätte sich argumentativ stärker ins Zeug gelegt, das herrschende Narrativ durch ein ausschließlich der Wahrheit verpflichtetes zu ersetzen. Auch hätte er dann vielleicht nicht so bereitwillig Türen geöffnet, die von den Ausschussmitgliedern recht bequem als argumentative Notausgänge verwendet werden konnten. Etwa in Gestalt seiner – in dieser Allgemeinheit – natürlich zutreffenden Aussage, dass eine psychische Störung ein rassistisches Motiv nicht ausschließe.
Wenn Prof. Saß in diesem Zusammenhang erwähnt, dass der Täter sich Bücher über den Nationalsozialismus und Rechtsextremismus bestellt hat, der Vater zudem ein „nationalkonservatives Weltbild“ pflegte, ist es angesichts der ja aufs Schwerste krankhaft verformten Weltsicht des Täters völlig unmöglich, auch nur mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf eine vom Wahn unabhängige Kaufentscheidung zu schließen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der, man möchte fast sagen: Anekdote, dass der Täter Döner verschmäht haben soll. Die Geschmacklosigkeit des GBA-Sachverständigen, ein nationalkonservatives Weltbild in eine Art kausale Verbindung mit Massenmord zu bringen, soll hier großzügig übergangen werden. Aber auch das bedient ein sicherlich bei den meisten der anwesenden Politiker und Medienvertreter vorhandenes Vorurteil, dass nämlich die individuelle Symptomatik einer Schizophrenie eben von solchen und ähnlichen Einflüssen wesentlich geprägt werde. Wichtiger dagegen wäre vielleicht der Hinweis gewesen, dass Tobias R. möglicherweise – die Forschungslage dazu ist noch recht offen – von seinem wahnkranken Vater eine gewisse genetische Belastung geerbt hat.
Die doppelte Buchführung bei Schizophrenie
Abschließend noch ein typisches Beispiel für die mediale Rezeption des Vortrags von Prof. Saß. Ganz offensichtlich wollte der Sachverständige zum Ausdruck bringen, dass es bei Schizophrenie-Kranken keinesfalls unmöglich ist, zielgerichtet einen Anschlag zu planen, obwohl gleichzeitig Wahnvorstellungen und andere Symptome bestehen. Er benutzt dazu auch den speziellen Ausdruck der doppelten Buchführung, der meint, dass der Kranke in seiner eigenen schizophrenen Welt lebt und zugleich ein Realitätsbezug besteht. Die medialen Aktivisten, z.B. von „Zeit Online“, biegen das allerdings so hin, dass Tobias R. „also offenbar nicht durch Wahnvorstellungen oder Ähnliches in seinem Handeln beeinträchtigt“ worden sei. Frei nach dem Motto: Die Krankheit war gar nicht so schlimm, der konnte ja noch minutiös seinen Anschlag planen. Bei solchen Journalisten, und das sollte ein vortragender psychiatrischer Gutachter bereits im Vorfeld erkennen, muss man sich genauer, pointierter und im Zweifel auch einmal weniger abwägend und sehr direkt äußern.
Vielleicht stand hinter diesem wenig pointierten Auftritt des GBA-Sachverständigen auch die Befürchtung, ansonsten als Sympathisant der AfD geschmäht zu werden. Auch wenn die Medien natürlich nicht ausführlicher über die Position der hessischen AfD-Landtagsfraktion in dieser Sache berichten, schimmert vereinzelt doch durch, dass der Abgeordnete der Schwefelpartei als einziger nicht überzeugt davon war, dass bei den Mordtaten von Tobias R. ein freier, nicht vom Wahn bestimmter Wille die entscheidende Rolle gespielt habe. Egal, wie man zur AfD steht: Wo sie recht hat, hat sie recht.
Auch an der Wissenschaftsfront – genauer: der organisierten deutschen Psychiatrie – sind offenbar schon längst letzte Hemmungen gegenüber der Klitterung oder Verklappung von unbequemen Wahrheiten verflogen. Herrschte dort zu Hanau zunächst bloß beredtes Schweigen, so haben zumindest die Herausgeber der führenden deutschen Fachzeitschrift schon seit Herbst 2020 keine Hemmungen, eine Übersicht zu „Rassismus und psychischer Gesundheit“ mit dem Hinweis auf die „rassistisch motivierte“ Gewalttat“ von Hanau aufzumachen. Klar, dass ein solcher Haltungsartikel von der ansonsten sehr strengen Bezahlschranke im „Nervenarzt“ verschont bleibt. Das Lesen lohnt sich aber nicht. Es ist einer dieser sich wissenschaftlich gebenden Aktivisten-Beiträge, bei denen die zahllosen Literaturhinweise überwiegend bloß Staffage sind und eine kritische Rezeption nicht erfolgt. Erfreulich ist lediglich, dass, obwohl seit anderthalb Jahren im Netz, die Arbeit erst dreimal zitiert wurde – und das, obwohl der Charité-Psychiatrie-Direktor Mitglied des ansonsten wissenschaftlich in der Psychiatrie noch nicht sonderlich in Erscheinung getretenen Autoren-Kollektivs ist. Aber, frei nach Werner Herzog: „Auch Zwerge haben klein angefangen.“
Der Beitrag erschien zuerst auf achgut.com
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im sozial- und zivilrechtlichen Bereich. Prof. Meins ist Mitautor des Buches „Die hysterische Republik“
Anm. Steffen Meltzer: Bei Gastbeiträgen handelt es sich um persönliche Meinungen der jeweiligen Autoren. Die Bewertungen überlasse ich erwachsenen und mündigen Lesern. Meiner Kommentare bedarf es dazu nicht.
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